Ermittlungsakte Ahr geschlossen - aber viele Fragen bleiben

Der Ex-Ahr-Landrat wird nicht angeklagt. Das wird kontrovers
diskutiert, in der Politik und bei Hinterbliebenen. Verstummen wird
die Debatte über die Flut und deren Bewältigung vorerst nicht.

Koblenz/Mainz (dpa/lrs) - Strafrechtlich soll die Flutkatastrophe im
Ahrtal keine Konsequenzen haben - das hat die Staatsanwaltschaft
Koblenz nach intensiven Untersuchungen entschieden und die
Ermittlungen gegen den ehemaligen Ahr-Landrat Jürgen Pföhler (CDU)
und einen Mitarbeiter aus dem Krisenstab eingestellt. Am Donnerstag
hatte die Behörde ihre Beweggründe dafür ausführlich dargelegt.
Besonders Hinterbliebene von Flutopfern sind mit der Entscheidung
nicht einverstanden, weil durchaus viele Mängel beim
Katastrophen-Management im Landkreis Ahrweiler deutlich geworden
sind. Aufgearbeitet wurde die schlimmste Naturkatastrophe in der
Geschichte von Rheinland-Pfalz aber nicht nur von Ermittlungsbehörden
- und beendet ist sie auch noch nicht endgültig. 

Wie könnte es juristisch weitergehen?

Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat zwar erst einmal die
Ermittlungsakte geschlossen. Die könnte aber wieder geöffnet werden,
wenn eine Beschwerde gegen die Entscheidung Erfolg hat. Ein Anwalt,
der Hinterbliebene vertritt, hat bereits gesagt, eine Beschwerde zu
erwägen - dann wäre die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz am Zug.
Kommt sie zu demselben Schluss wie die Staatsanwaltschaft Koblenz,
dass niemand für die mangelhafte Vorbereitung oder den Umgang mit der
Katastrophe strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist
es möglich, einen Antrag für eine Entscheidung beim Oberlandesgericht
Koblenz zu stellen.  

Was stört Flutopfer und Hinterbliebene an der Entscheidung der
Staatsanwaltschaft?

Ihnen geht es um eine juristische Aufarbeitung, also letztlich darum,
in einem Gerichtsprozess die Frage nach Schuld und Verantwortung zu
klären. Ein Betroffener der Flutkatastrophe sagte zur Einstellung der
Ermittlungen: «Bis zuletzt haben wir gehofft, dass hier noch jemand
für Recht und Ordnung sorgt. Das ist offensichtlich nicht
geschehen.» 

Wie beurteilen Katastrophenschutzexperten die Entscheidung der
Staatsanwaltschaft?

Der Direktor des Kieler Instituts für Krisenforschung, Frank
Roselieb, äußerte sich kritisch zu den Begründungen des
Oberstaatsanwalts. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft könne ein
Landrat in Deutschland nicht belangt werden, wenn er das
Katastrophen-Management in seinem Landkreis ganz anders organisiere,
als es die Vorgabe vorsehe und es auch alle anderen rund 400 Stadt-
und Landkreisen in Deutschland seit etwa 70 Jahren machten,
kritisierte Roselieb, der als Experte im Flut-Untersuchungsausschuss
des Landtags ausgesagt hatte. «Das mag strafrechtlich zutreffend
sein. Spätestens an dieser Stelle hätte der Oberstaatsanwalt aber
Charakter zeigen und in der Pressekonferenz einen Appell an die
Politik richten können, diese Regelungslücke schnellstmöglich - auch

im Strafrecht - zu schließen.»

Wie geht es für den Ex-Landrat Pföhler weiter?

Strafrechtlich drohen ihm mit der Einstellung des
Ermittlungsverfahrens erst einmal keine Konsequenzen mehr.
Disziplinarrechtlich sieht die Sache anders aus. Ein entsprechendes
Verfahren war im August 2021 eingeleitet, angesichts der Ermittlungen
der Staatsanwaltschaft später dann nach Angaben der Aufsichtsbehörde
ADD ausgesetzt worden. Wenn nun keine Rechtsmittel gegen die
Einstellung der Staatsanwaltschaft eingelegt werden, wird das
Disziplinarverfahren fortgesetzt. Welche Konsequenzen dies dann für
Pföhler haben wird, bleibt abzuwarten. 

Wie reagiert die Politik auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft?

Die Kritik der Opposition im rheinland-pfälzischen Landtag ist
deutlich. Der Obmann der Freie-Wähler-Landtagsfraktion im
Flut-Untersuchungsausschuss, Stephan Wefelscheid, sagte etwa, die
Ausführungen der Staatsanwaltschaft hätten ihn nicht überzeugt. Am
kommenden Dienstag (23. April) wird sich der Rechtsausschuss des
Landtags in Mainz mit dem Thema befassen, die Landesregierung hat
einen Bericht dazu angekündigt. 

Nach Einschätzung des Trierer Politikwissenschaftlers Uwe Jun wird
die Opposition versuchen, «das Thema im Gespräch zu halten, die
Landesregierung steht ja nach wie vor in der politischen
Verantwortung». Abgesehen von einer tief sitzenden Enttäuschung im
Ahrtal sei das Thema aber dennoch in der breiten Öffentlichkeit nicht
mehr so präsent. Und wenn nun kein Prozess komme, könne die
Landesregierung die Hoffnung haben, dass das Thema noch mehr aus dem
Fokus gerate. «Ein Prozess hätte immer wieder daran erinnert und das
Ereignis an sich und dessen Bewältigung werfen allen Umfragen zufolge
kein positives Licht auf die Landesregierung.»

Wie ist der bisherige Stand der politischen Aufarbeitung?

Ein Untersuchungsausschuss im Landtag hat sich ausführlich mit der
Katastrophe beschäftigt und die Beweisaufnahme im Februar
abgeschlossen. Ziel war es, die Abläufe während der Flut und die
politische Verantwortung für die Vorkommnisse zu untersuchen.  Rund
250 Zeugen und Sachverständige wurden befragt. Nun wird ein
Abschlussbericht erstellt, der im September im Landtag diskutiert
werden soll - und damit mehr als drei Jahre nach der Flutkatastrophe.
Der Bericht wird mehrere Bände umfassen und über 2000 Seiten haben. 


Welche Konsequenzen wurden aus der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz
bislang gezogen?

Zwei Landesminister traten zurück: die ehemalige rheinland-pfälzische
Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne), die zu diesem Zeitpunkt schon
Bundesfamilienministerin war, und der langjährige Innenminister Roger
Lewentz (SPD), der nach wie vor SPD-Landeschef ist. Außerdem wird der
Katastrophenschutz neu strukturiert, ein Lagezentrum für
Bevölkerungsschutz in Koblenz wird kommen. Das soll das Herzstück des
neuen Landesamts für Brand- und Katastrophenschutz werden und künftig
rund um die Uhr besetzt sein. 

Was macht es mit Betroffenen, wenn kein Gerichtsprozess stattfindet?

«Es ist der bitterste Zustand, wenn ein Verfahren eingestellt wird
gegen jemanden, der aus Sicht von Betroffenen Schuld haben könnte»,
sagt der Marburger Psychologe Winfried Rief. Die juristische
Aufarbeitung könne bei der Traumabewältigung mitentscheidend sein.
«Wenn ich ein Gefühl der Ungerechtigkeit habe, ist die Bewältigung
schwerer. Es macht eben einen Unterschied, ob man den Eindruck hat,
dass das Ereignis ein Pech war, das niemand verhindern konnte, oder
ob jemand beteiligt war, der ungestraft davonkommt.»

Für Betroffene könne ein Gerichtsprozess bei der Verarbeitung
durchaus hilfreich sein. «Einerseits reaktiviert zwar ein solches
Verfahren die Erinnerungen, anderseits herrscht oft ein größeres
Gerechtigkeitsgefühl. Es wird vor Gericht kompetent geprüft, und es
gibt ein rechtmäßiges Urteil. Besser ein ordentliches Verfahren -
auch, wenn ein Freispruch herauskommt - als das Einstellen der
Ermittlungen.» Rief plädierte dafür, Betroffene so stark wie möglic
h
an Veränderungen vor Ort zu beteiligen. «Wie kann ich verhindern,
dass Menschen in die Isolation gehen? Man muss sie mitnehmen auch bei
den Wiederaufbau-Maßnahmen, damit neue Erfahrungen das Trauma
sozusagen überschreiben.»