«Frauen, Leben, Freiheit» - Irans neuer Systemkampf Von den dpa-Korrespondenten

Musste eine junge Iranerin wegen eines schlecht sitzenden Kopftuchs
sterben? Der Fall der 22-jährigen Mahsa Amini löste im Land die
schwersten Unruhen seit Jahren aus. Eine neue Protestgeneration
stellt sich entschlossen gegen die Islamische Republik.

Teheran (dpa) - Frauen, die öffentlich ihre Kopftücher anzünden.
Männer, die Polizisten verprügeln, weil sie Demonstrationen filmen.
Im Iran entlädt sich die angestaute Wut Hunderttausender Menschen auf
den Straßen. Wie ein Lauffeuer breitet sich der Protest im ganzen
Land nach dem Tod einer jungen Frau aus. Angst und Hoffnung liegen in
der Luft, während die Staatsmacht eine Antwort vorbereitet.

In der Hauptstadt Teheran geht die Studentin Schabnam seit Tagen auf
die Straße, weil sie Veränderung will. «Ich kann rumsitzen und alles

bedauern, oder ich kann etwas dagegen tun», sagt die 25-Jährige in
einem Telefoninterview. Der Tod der jungen Mahsa Ahmini im
Polizeigewahrsam hatte bei ihr wie bei zahlreichen Menschen weltweit
Entsetzen ausgelöst. Am Freitag vergangener Woche war die iranische
Kurdin gestorben, nachdem sie wenige Tage zuvor von der Moralpolizei
wegen ihres «unislamischen Kleidungsstils» festgenommen worden war.

«Sie können nicht alle zusammenschlagen, verhaften oder töten», sag
t
Schabnam. Es mache ihr Mut, gemeinsam mit anderen Menschen auf die
Straße zu gehen. In vielen Städten ist mit Anbruch der Dunkelheit,
wenn die Menschen auf die Straßen strömen, immer wieder der Slogan zu
hören: «Wir fürchten uns nicht, wir fürchten uns nicht. Wir sind al
le
zusammen» - eine Parole, die vor allem während der Demonstrationen
nach der umstrittenen Präsidentenwahl 2009 populär geworden war.

Doch heute, 13 Jahre später, ist das Land anders. Dabei spielt nicht
nur die Wirtschaftskrise eine Rolle, die selbst gebildete
Uni-Absolventen zum Taxifahren zwingt und die Ersparnisse der
Mittelschicht durch hohe Inflation schwinden lässt. Auch die junge
Generation stellt sich mutig dem Staat entgegen und kritisiert das
islamische System. Dabei geht es vielen gar nicht darum, die
islamische Religion abzulehnen.

«Wer im Islam würde ein junges Mädchen wegen eines Kopftuchs töten?
»,
fragt Schabnams Vater, der in Teheran als Apotheker arbeitet. Anfangs
war er wie seine Ehefrau noch besorgt, dass die Kinder demonstrieren
gehen. Doch auch den religiösen Eltern, die während der islamischen
Revolution 1979 am Sturz der Monarchie beteiligt waren, ist bewusst
geworden, wie wütend viele Menschen sind. «Die Verzweiflung ist ein
Grund, warum das Regime Angst haben sollte.»

Viele Demonstranten fordern seit fast einer Woche den Sturz des
gesamten islamischen Regimes im Iran und stattdessen ein säkulares
System, in dem Staat und Religion getrennt sind, als Alternative.
Schabnam und ihre Familie gehen jedoch nicht so weit. «Die Türkei ist
ja auch islamisch, aber die Frauen dürfen zwischen Schleier und
Minirock frei wählen», sagt Schabnam. Daher gehe es ihrer
Einschätzung nach nicht allen Demonstranten um einen «politischen
Umsturz, sondern um ein Ende unzeitgemäßer islamischer Kriterien, die
der iranischen Gesellschaft in den letzten vier Jahrzehnten
aufgedrängt wurden».

Die Regierung des erzkonservativen Präsidenten Ebrahim Raisi ist seit
dem Tod der jungen Frau und der landesweiten Entrüstung in
Erklärungsnot geraten. Kaum jemand glaubt der offiziellen
Darstellung, die 22-Jährige sei wegen Herzversagen zusammengebrochen.
Längst ist ihr Fall zu einem Symbol für die Unzufriedenheit vieler
Iraner geworden. Unterstützung erhalten die Demonstranten auch von
ungewöhnlicher Seite. Einst konservative Politiker fordern eine
Kurskorrektur.

Die Proteste haben sich in den vergangenen vier Tagen zu einer
offenen Herausforderung für die iranische Führung entwickelt. Frauen
legten auf den Straßen ihre Kopftücher, die sie tragen müssen, ab.
Wütende Demonstranten zündeten Mülltonnen an und forderten, das
bestehende System zu stürzen. «Frauen, Leben, Freiheit», wurde
gerufen oder auch «Tod dem Diktator!» - eine Anspielung auf den
Religionsführer Ali Chamenei. Diese Form der offenen Systemkritik
dürfte nicht unbeantwortet bleiben.

Regierung und Staatsmedien thematisieren die Proteste bisher kaum.
Wenn überhaupt darüber berichtet wird, betiteln die Zeitungen den
Protest als Einflussversuch ausländischer Mächte. Doch der Rhetorik
der Ideologen, die aus einer Zeit des Widerstands in den 1970er
Jahren stammt, glaubt heute kaum einer mehr. Auch deshalb scheint der
Staat das Internet nahezu abgeschaltet zu haben, um jeglichen
Versuch, Proteste zu organisieren, zu unterbinden.

Experten in Teheran bezweifeln, dass die Regierung jetzt
Zugeständnisse macht. Der Kopftuchzwang sei nicht nur irgendein
Gesetz, sondern gehöre zu den ideologischen Prinzipien der
Islamischen Republik, erklärt ein Universitätsprofessor. Unterstützer

des Systems befürchten einen Dominoeffekt, sollte der Staat den
Frauen bei der Wahl ihrer Kleidung große Zugeständnisse machen.

Während nahezu alle sozialen Netzwerke gesperrt und das mobile
Internet abgeschaltet sind, fürchten viele ein hartes Einschreiten
der Sicherheitskräfte. Mindestens 17 Menschen wurden nach Angaben der
Staatsmedien bislang getötet. Wie viele es wirklich sind, lässt sich
kaum überprüfen. Weltweit solidarisierten sich iranische Prominente
mit den Protesten. Doch die meisten können nur hilflos zuschauen.

Auch Schabnam hat keine Hoffnung auf Unterstützung von außen.
Trotzdem hofft die Studentin auf Veränderung und politische Reformen.
«Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um Angst zu haben», sagt sie.