«Wir fürchten uns nicht» - Irans Regierung nach Protesten unter Druck Von Farshid Motahari, Arne Bänsch und Albert Otti, dpa

Wurde sie ein Opfer der islamischen Sittenwächter? Der Tod der
22-jährigen Mahsa Amini im Polizeigewahrsam hat im Iran landesweite
Proteste ausgelöst. Rufe nach Reformen kommen von ungewöhnlicher
Seite.

Teheran/Wien (dpa) - Nach Protesten gegen den Tod einer 22 Jahre
alten Frau im Polizeigewahrsam wächst der Druck auf Irans Regierung.
Allein in der Hauptstadt Teheran waren am Montagabend Tausende
Menschen zusammengekommen, um den Tod von Mahsa Amini anzuprangern
und Aufklärung zu fordern. Sicherheitskräfte nahmen zahlreiche
Demonstranten fest, wie die iranischen Nachrichtenagenturen Isna und
Fars berichteten. Auch am Dienstagabend strömten wieder Menschen auf
die Straßen, nachdem es tagsüber zunächst ruhig geblieben war. In der

Provinz Kurdistan starben bei Protesten nach Angaben des Gouverneurs
drei Menschen aus bisher ungeklärten Gründen.

Die junge Frau war am vergangenen Dienstag von der Sitten- und
Religionspolizei wegen ihres «unislamischen Outfits» festgenommen
worden. Was genau danach geschah ist unklar, jedenfalls fiel Amini
ins Koma und starb am Freitag in einem Krankenhaus. Nach
Polizeiangaben hatte die junge Frau Herzprobleme und war auf der
Wache in Ohnmacht gefallen.

Im Netz kursierte jedoch auch eine andere Version. Nach der
Verhaftung sei ihr Kopf im Polizeiauto gegen die Scheibe geschlagen
worden, was zu einer Hirnblutung geführt habe. Die Polizei wies diese
Darstellung vehement zurück. Ein Foto der jungen Frau auf ihrem
Krankenbett, angeschlossen an ein Beatmungsgerät, ging um die Welt.

Die Polizei und auch die Regierung des erzkonservativen Präsidenten
Ebrahim Raisi sind aufgrund des Todes der Frau und der landesweiten
Entrüstung in Erklärungsnot geraten. Zur Empörung über den Fall Ami
ni
kommt die seit langem miserable Wirtschaftslage hinzu, viele Menschen
bekommen die Krise in ihrem Alltag hart zu spüren. «Es gibt keine
dunklere Farbe als schwarz», beschrieb ein Demonstrant in Teheran
seine akute Hoffnungslosigkeit.

Frauen verbrannten aus Solidarität öffentlich ihre Kopftücher, auch
in anderen Städten der Islamischen Republik sowie Aminis
Heimatprovinz Kurdistan gingen etliche Menschen auf die Straße. Dabei
kam es Medienberichten zufolge zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen
Sicherheitskräften und Demonstranten. An mehreren Orten riefen die
Teilnehmer der Proteste: «Wir fürchten uns nicht, wir sind alle
zusammen» - eine Parole, die vor allem während der Demonstrationen
nach der umstrittenen Präsidentenwahl 2009 populär geworden war.

Die Demonstranten richteten sich nicht nur gegen Raisi und die
islamischen Kleidungsvorschriften, sondern vereinzelt auch gegen die
Politik des gesamten islamischen Establishments. Auf den Straßen
waren etwa Rufe wie «Tod dem Diktator» zu hören.

Auslöser war ein zivilgesellschaftliches Dauerthema, die Frage um
islamische Dresscodes. «Der Fall von Mahsa Amini ist in einem Kontext
passiert, in dem der Kessel sowieso schon kurz vor dem Überlaufen
war», sagte der Iran-Experte Adnan Tabatabai vom Forschungszentrum
Carpo mit Sitz in Bonn. Die Kopftuchdebatte Irans beschäftigte nicht
nur Frauen und junge Menschen. «Ich empfinde es so, dass wir jetzt
viel mehr generationenübergreifenden Zuspruch für die jetzigen
Proteste haben.»

Teherans Gouverneur Mohsen Mansuri sprach unterdessen von geplanten
und trainierten Protesten, mit dem Ziel Unruhen zu stiften. Bereits
in der Vergangenheit hatten Politiker der Regierung Demonstrationen
als Unruhen bezeichnet - kurz danach schritten wie etwa bei den
landesweiten Protesten 2019 Sicherheitskräfte ein, um die Proteste zu
unterdrücken. Die Geschwindigkeit des Internets war in Kurdistan und
der Hauptstadt in vielen Bereichen deutlich gedrosselt.

Der Experte Tabatabai geht von einer harten Reaktion des Staates aus,
sollten die Proteste anhalten. «Ich würde zunächst befürchten, dass

der Sicherheitsapparat mit all seiner Wucht den Protesten erst mal
ein Ende setzen wird und mit Härte dafür sorgen möchte, dass die
Proteste auf der Straße aufhören.» Gleichzeitig könnten laut
Tabatabai die Forderungen nach einem Kurswechsel auch zu allmählichen
Reformen führen. Anzeichen dafür seien kritische Äußerungen wie etw
a
durch den ehemaligen Kulturminister Abbas Salehi, der in einem Tweet
ein Überdenken der Vorgehensweisen fordert.

Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen kritisierte die
Umsetzung von Bekleidungsvorschriften für Frauen im Iran scharf und
forderte eine rasche und unabhängige Untersuchung des Todes der
22-jährigen Amini. Alle diskriminierenden Rechtsvorschriften zu
weiblicher Bekleidung sollten aufgehoben werden. Die USA äußerten
scharfe Kritik am Iran. Dass eine Frau, die nur ihre Grundrechte
wahrnehmen wolle, auf diese Weise sterben könne, spiegele die
«völlige Unterdrückung und Brutalität des Regimes wider», sagte d
er
Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake
Sullivan, am Dienstag in Washington.

Auch der ehemalige Gesundheitsminister Massud Peseschkian forderte
Transparenz. «Das Volk ist aufgebracht und muss transparent über die
Hintergründe informiert werden», sagte der Parlamentsabgeordnete am
Montag im Staatsfernsehen. Als studierter Arzt zweifelte der
67-Jährige an der offiziellen Darstellung.

Seit der Islamischen Revolution im Jahr 1979 gelten im Iran strenge
Kleidungsvorschriften. Insbesondere in den Metropolen und reicheren
Vierteln sehen viele Frauen die Regeln inzwischen aber eher locker
und tragen beispielsweise ihr Kopftuch nur locker auf dem Hinterkopf
- zum Ärger erzkonservativer Politiker. Religiöse Hardliner im
Parlament versuchen seit Monaten, die islamischen Gesetze strenger
anwenden zu lassen.