Massiver Druck und Frust: Überlastete Ärzte erwägen Berufswechsel

Eine Umfrage unter 1300 Klinikärzten in Niedersachsen zeigt: Fast 70
Prozent bemängeln die Arbeitsbedingungen, viele sind frustriert - und
manche denken sogar darüber nach, den Beruf ganz aufzugeben. Das
wirkt sich auf die Patientensicherheit aus, warnt der Marburger Bund.

Hannover (dpa/lni) - Zu wenig Personal, zu viele Überstunden, zu
schlechte Arbeitsbedingungen: Gut ein Fünftel der
Krankenhausmediziner in Niedersachsen denkt einer neuen Umfrage
zufolge darüber nach, den Beruf aufzugeben. Weitere 19 Prozent der
Befragten schließen einen Berufswechsel nicht grundsätzlich aus, wie
die am Dienstag vorgestellte Studie der Ärztegewerkschaft Marburger
Bund ergab. «Das Gesundheitssystem muss grundlegend reformiert
werden», forderte der Vorsitzende des Marburger Bundes Niedersachsen,
Hans Martin Wollenberg.

Im Durchschnitt liege die Mehrbelastung bei 6,3 Stunden in der Woche,
sagte Wollenberg. Das entspreche bei rund 17 200 Klinikärzten im Land
über 2700 Vollzeitstellen, die die Krankenhausärzte über Mehrarbeit
mit ausfüllten. Über ein Viertel der Befragten bekam für Überstunde
n
weder Geld noch Freizeitausgleich. Fast ein Fünftel gab an, mehr als
60 Stunden in der Woche zu arbeiten, zwei Prozent arbeiteten demnach
sogar mehr als 80 Stunden wöchentlich. «Für mich ist es ein
frustrierender und zermürbender Zustand, wenn ich mich in meiner
Arbeit als Ärztin zwischen meinem und dem Gesundheitszustand des
Patienten entscheiden muss», wurde eine Medizinerin zitiert.

Denn es sei unmöglich, die Patienten mit mehr Zeit und Empathie zu
versorgen, wurde ein anderer Mediziner in der Umfrage zitiert - der
wegen «Stresses ohne Ende mit Papierkram» nicht länger ärztlich t
ätig
sein will. Dazu kommt: 39 Prozent der Befragten in Niedersachsen
erlebten laut Umfrage während der Corona-Pandemie einen Abbau
ärztlicher Stellen, während es bundesweit 34 Prozent waren. Das habe
die Lage verschärft, sagte Marburger-Bund-Vize Andreas Hammerschmidt.

67 Prozent der Befragten bemängeln der Umfrage zufolge die
Arbeitsbedingungen, fast ein Drittel gab an, vom Arbeitgeber keine
Möglichkeit der Zeiterfassung zu erhalten. Die Folge: «Die
Kolleginnen und Kollegen machen ihre eigene Arbeitsmarktreform und
reduzieren den Stellenumfang, um die Belastung noch irgendwie
ertragen zu können», sagte Hammerschmidt. So arbeiteten inzwischen 31
Prozent der Befragten in Teilzeit - 2019 lag ihr Anteil bei 29
Prozent.

An der Studie beteiligten sich im vergangenen Mai und Juni rund 1300
angestellte Ärzte in Niedersachsen, 85 Prozent davon sind den Angaben
zufolge Klinikärzte. Laut Marburger Bund handelt es sich um die
größte Ärzteumfrage des Landes.

Ebenfalls ein großer Kritikpunkt: Der bürokratische Aufwand rund um
die Patientendokumentation. Fast ein Drittel der Befragten verliere
mit dem «Papierkram» täglich vier Stunden und mehr, sagte
Hammerschmidt. «Ich bin Arzt geworden, weil ich Patienten heilen
will», betonte er. Am Ende fehle diese Zeit am Patientenbett. Er
resümierte, Appelle an die Politik hätten nichts bewegt: «Es ist
leider das Gegenteil der Fall.»

Der Marburger Bund forderte angesichts der Ergebnisse dauerhaft mehr
Personal in den Krankenhäusern, eine Begrenzung der Schicht-,
Bereitschafts- und Rufdienste, eine angemessene Finanzierung der
Versorgungsangebote, mehr Medizinstudienplätze, keine weitere
Privatisierung von Krankenhäusern, die Abschaffung der Fallpauschalen
und die Entlastung von Bürokratie. Außerdem sprach sich die
Ärztegewerkschaft für einen Sonderfonds des Landes für die
energetische Sanierung und den Neubau von Kliniken aus. Das
Fondsvolumen sei noch nicht definiert, der Investitionsstau betrage
allerdings mehrere Milliarden Euro, sagte Hammerschmidt.