Oberstes US-Gericht kippt liberales Abtreibungsrecht Von Julia Naue und Benno Schwinghammer, dpa

Vor einem halben Jahrhundert feierten Frauen überall in den USA ein
Abtreibungsurteil des Obersten Gerichtshofs. Bis heute galt die
Entscheidung als Meilenstein, weil sie Abtreibungen bis zur
Lebensfähigkeit des Fötus erlaubte. Nun ist sie Geschichte.

Washington (dpa) - Der Oberste Gerichtshof der USA hat nach fast
einem halben Jahrhundert das liberale Abtreibungsrecht in den
Vereinigten Staaten gekippt. Die weitreichende Entscheidung hat
schwerwiegende Konsequenzen für Schwangere im Land. Der mehrheitlich
konservativ besetzte Supreme Court in Washington machte am Freitag
den Weg für strengere Abtreibungsgesetze frei - bis hin zu kompletten
Verboten in einzelnen Bundesstaaten. US-Präsident Joe Biden nannte
die Entscheidung einen «tragischen Fehler». Einige fürchten, dass
künftig auch die gleichgeschlechtliche Ehe oder das Recht auf
Verhütung auf den Prüfstand kommen könnten.

Mit der Entscheidung des Gerichts ist das bisherige Recht auf
Abtreibung aus dem Jahr 1973 in den USA Geschichte. Das Urteil gilt
als politisches Erdbeben - es werden massive Proteste erwartet. In
etwa der Hälfte der Bundesstaaten dürfte es nun zu weitgehenden
Einschränkungen bis hin zu Verboten von Schwangerschaftsabbrüchen
kommen. «Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung», heißt e
s
in der Urteilsbegründung. Die Entscheidung ist keine Überraschung:
Anfang Mai war ein Entwurf dazu öffentlich geworden. Daraus ging
bereits hervor, dass das Gericht so entscheiden will. Das Urteil ist
nun so drastisch wie erwartet.

Es gibt in den USA kein landesweites Gesetz, das
Schwangerschaftsabbrüche erlaubt oder verbietet. Abtreibungen sind
aber mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt - heute
etwa bis zur 24. Woche. Dies stellte bisher ein Urteil des Obersten
US-Gerichts von 1973 sicher, das als Roe v. Wade bekannt ist. Ein
weiteres Urteil von 1992, Planned Parenthood v. Casey, bestärkte die
Rechtsprechung weitgehend und passte sie an. Der Supreme Court hat
diese Entscheidungen nun gekippt.

Die heutige konservative Mehrheit im obersten US-Gericht hielt sich
mit Schelte an den Vorgängern nicht zurück. «Roe war vom Tag seiner
Entscheidung an ungeheuer falsch und auf Kollisionskurs mit der
Verfassung. Casey hat seine Fehler fortgesetzt», heißt es in der
Begründung. Die «Befugnis zur Regelung» des Abtreibungsrechts würde
n
nun an das Volk und seine gewählten Vertreter zurückgegeben - sprich
an die Bundesstaaten. In Deutschland bleibt seit 1995 ein
Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen straffrei, wenn
die Frau sich zuvor beraten lässt.

In den USA ist das Abtreibungsrecht immer wieder Thema heftiger
Auseinandersetzungen. Gegner versuchen seit Jahrzehnten, die
liberalen Regeln zu kippen. Aber eine so drastische
Gerichtsentscheidung wie die aktuelle schien vor einigen Jahren noch
unmöglich. Unter dem vorigen Präsidenten Donald Trump rückte der
Supreme Court dann deutlich nach rechts. Der Republikaner ernannte
während seiner Amtszeit die Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und
Amy Coney Barrett. Sie alle stimmten dafür, das Recht auf Abtreibung
zu kippen - gemeinsam mit den konservativen Richtern Clarence Thomas
und Samuel Alito. Der oberste Richter John Roberts machte aber
deutlich, dass er das Recht auf Abtreibung nicht in diesem nun
drastischen Ausmaß beschränken wollte.

Die Richterinnen Sonia Sotomayor und Elena Kagan sowie Richter
Stephen Breyer stimmten gegen die Entscheidung. Sie gelten als
liberal. «Nach dem heutigen Tag werden junge Frauen mit weniger
Rechten aufwachsen, als ihre Mütter und Großmütter hatten» hieß e
s in
ihrer abweichenden Meinung. Die Mehrheit habe entschieden ohne zu
bedenken, was es bedeute, Frauen das Recht auf Abtreibung zu nehmen.

Großes Entsetzen löste eine Stellungnahme des ultra-konservativen
Richters Clarence Thomas aus. Er schrieb, dass auch Entscheidungen,
die das Recht auf Verhütung, die gleichgeschlechtliche Ehe oder Sex
unter gleichgeschlechtlichen Partnern verankern, auf den Prüfstand
gehörten. Die restlichen konservativen Richter betonten allerdings,
dass das aktuelle Urteil diese Präzedenzfälle nicht infrage stelle.
Biden warnte mit Blick auf Thomas vor einem «extremen» und
«gefährlichen» Weg, den das Gericht einschlage.

Doch warum beschäftigte sich das Gericht überhaupt mit dem Thema?
Hintergrund ist ein Abtreibungsgesetz aus dem Bundesstaat
Mississippi, das fast alle Abtreibungen nach der 15.
Schwangerschaftswoche verbietet - ein Gesetz, das nach der bisherigen
Rechtssprechung eigentlich verfassungswidrig war. Der konservativ
regierte Bundesstaat hatte das Oberste Gericht angerufen, den Fall zu
überprüfen. Dass sich das Gericht überhaupt damit beschäftigte, war

bereits als Zeichen gewertet worden, dass Roe v. Wade gekippt werden
könnte.

Die Entscheidung sieht nun vor, es den Bundesstaaten zu überlassen,
wie sie ihr Abtreibungsrecht regeln. Dies gilt als besonders
drastisch. Einige Staaten haben bereits Gesetze vorbereitet, die
sofort in Kraft treten können, wenn die bisherige Rechtssprechung
kippt - sogenannte Trigger Laws. Es sind vor allem die
erzkonservativen Staaten im Süden und mittleren Westen, die
Abtreibung ganz oder fast komplett verbieten wollen.

Liberale Staaten wie New York oder Kalifornien haben hingegen
Gesetze, die das Recht auf Abtreibung ausdrücklich schützen. In
diesen Staaten dürfte sich vorerst nichts ändern. Für Schwangere
bedeutet die Entscheidung, Hunderte oder gar Tausende Kilometer
reisen zu müssen, um eine Abtreibungsklinik zu erreichen. Viele
können sich das nicht leisten. Befürchtet wird, dass wieder vermehrt
Frauen versuchen, selbst eine Abtreibung vorzunehmen.

Die Demokraten von US-Präsident Biden hatten Anfang Mai versucht,
dass Recht auf Abtreibung per Gesetz zu verankern - scheiterten damit
aber im Senat. Die Abstimmung war in erster Linie symbolischer Natur.
Mit ihrer knappen Mehrheit können die Demokraten ein solches Gesetz
nicht ohne weiteres durchbringen. Hinzu kam, dass nicht einmal in den
eigenen Reihen Geschlossenheit herrschte. Biden kann das Recht auf
Abtreibung nicht einfach mit einem Dekret wiederherstellen - er ist
auf den Kongress angewiesen.

Die Demokraten hoffen, mit dem Thema für die US-Wahlen im November
mobilisieren zu können. Sie argumentieren, mit einer deutlichen
Mehrheit ein Gesetz verabschieden zu können, dass das Recht auf
Abtreibung gesetzlich festschreibt. Umfragen zufolge dürften sie aber
ihre Mehrheit verlieren. Nur eine Minderheit der US-Bevölkerung war
Umfragen zufolge dafür, dass Roe v. Wade gekippt wird. Dem Institut
Gallup zufolge unterstützt seit den 70er Jahren eine Mehrheit das
Recht auf Abtreibung - mit Einschränkungen oder unter allen
Umständen.

Einige Bundesstaaten wie Texas hatten es zuletzt schon über einen
zivilrechtlichen Umweg ausgehebelt. Das dortige Gesetz verbietet alle
Abtreibungen, sobald der Herzschlag des Fötus festgestellt worden
ist. Das kann schon in der sechsten Schwangerschaftswoche der Fall
sein. Außergewöhnlich an dem Gesetz ist, dass es Privatpersonen
ermöglicht, zivilrechtlich gegen alle vorzugehen, die bei einer
Abtreibung helfen. Dieser rechtliche Kniff macht es auch besonders
schwer, das Gesetz vor Gericht anzufechten.