WHO-Alarm wegen Affenpocken? Experten beraten in Genf Von Gisela Gross und Christiane Oelrich, dpa

Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei - und erneut beraten
Fachleute darüber, ob wegen eines Krankheitserregers eine Notlage von
internationaler Tragweite ausgerufen werden sollte. Was droht mit den
Affenpocken?

Genf (dpa) - Die Zahl der Affenpocken-Nachweise steigt in Deutschland
und mehr als 40 anderen Ländern. Die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) hat deshalb einen Affenpocken-Notfallausschuss einberufen. Am
Donnerstag begannen die in den Ausschuss berufenen unabhängigen
Fachleute mit einer Lagebeurteilung. Sie prüfen, ob die öffentliche
Gesundheit in größerem Umfang bedroht ist. Dann würden sie die
Ausrufung einer «Notlage von internationaler Tragweite» empfehlen.
Letztlich liegt die Entscheidung bei der WHO. Das Ergebnis der
Beratungen wird nach WHO-Angaben nicht vor Freitag erwartet.

Warum trifft sich der Ausschuss?

Die WHO ist wegen der Häufung der gemeldeten Fälle besorgt. Das Virus
verhalte sich ungewöhnlich und es seien immer mehr Länder betroffen,
sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus. Bis Mitte Juni wurden der
WHO gut 2100 Fälle gemeldet. Seitdem hat sich die Zahl aber allein in
Deutschland schon verdoppelt. Beunruhigend für die WHO ist, dass 98
Prozent der Fälle in Ländern entdeckt wurden, in denen das Virus
bislang praktisch unbekannt war, und nicht aus den afrikanischen
Ländern, die Ansteckungen seit Jahrzehnten kennen. «Wir wollen nicht
warten, bis die Situation außer Kontrolle geraten ist», sagte
WHO-Spezialist Ibrahima Socé Fall zur Einberufung des Ausschuss.

Was bedeutet es, wenn eine Notlage ausgerufen wird?

Die Erklärung einer Notlage (PHEIC - Public Health Emergency of
International Concern) ist die höchste Alarmstufe, die die WHO zünden
kann. Unmittelbare praktische Auswirkungen hat das nicht. Vielmehr
soll dies die Aufmerksamkeit der 194 Mitgliedsländer erhöhen. Der
Expertenrat gibt Empfehlungen: etwa, dass Kliniken und Praxen nach
Fällen Ausschau halten und mit Aufklärung dafür sorgen sollen, dass
sich möglichst wenig Menschen anstecken. Der Rat begutachtet auch
«das Risiko einer internationalen Ausbreitung und Risiken für den
internationalen Verkehr», sagt WHO-Sprecherin Carla Drysdale. Welche
Schlüsse Regierungen daraus ziehen, bleibt ihnen selbst überlassen.

Wenn die Notlage erklärt wird: Muss die Welt sich auf eine Pandemie
wie mit dem Coronavirus einstellen?

Nein. Zwar hat die WHO auch nach dem Auftauchen von Sars-CoV-2 am 30.
Januar 2020 eine «Notlage von internationaler Tragweite» erklärt.
Aber die Krankheiten lassen sich überhaupt nicht miteinander
vergleichen.

Affenpocken werden nach bisherigem Kenntnisstand hauptsächlich durch
engen Körperkontakt von Mensch zu Mensch übertragen. Nach WHO-Angaben

sind 99 Prozent der bisher Betroffenen Männer bis 65 Jahre, die Sex
mit Männern haben. Generell kann sich aber jeder infizieren, der
engen körperlichen Kontakt mit Infizierten hat.

Dagegen verbreitet sich das Coronavirus Sars-CoV-2 über virenhaltige
Aerosole, die beim Atmen, Husten und Sprechen von Infizierten
entstehen. Die Aerosole können über längere Zeit in der Luft bleiben,

was zur schnellen Übertragung beiträgt.

Bei Corona gab es am 30. Januar 2020 gut 20 000 bestätigte und
wahrscheinliche Infektionen mit dem neuen Virus in China, sowie 83
gemeldete Fälle in anderen Ländern. Bei Affenpocken meldete die
WHO Stand 15. Juni gut 2100 Fälle aus gut 40 Ländern.

Was spricht für und was gegen die Erklärung einer globalen Notlage?

Zunächst einmal: Gesundheitsexperten in Genf halten es für eher
unwahrscheinlich, dass der Ausschuss schon bei seinem ersten Treffen
die Erklärung einer Notlage empfiehlt.

Dagegen spricht: Die Infektionszahlen steigen nicht explosiv, weil
die Übertragung nach jetzigem Kenntnisstand deutlich schwieriger ist
als bei Corona. Beim aktuellen Ausbruch werden bisher in der Regel
auch keine schweren und tödlichen Krankheitsverläufe beobachtet.
Außerdem handelt es sich beim Affenpocken-Erreger um ein DNA- und
kein RNA-Virus wie Sars-CoV-2: DNA-Viren sind träger und mutieren
kaum. Deshalb werden immer ansteckendere Varianten wie bei Corona
nicht so schnell erwartet. Es gibt auch anders als beim Beginn von
Corona bereits einen Impfstoff. Der wurde gegen Menschenpocken
entwickelt, ist aber auch gegen Affenpocken wirksam.

Dafür spricht: Das Virus verhält sich anders als bislang bekannt war.
Affenpocken sind eigentlich eine Krankheit bei Nagetieren in West-
und Zentralafrika. Vereinzelt springen sie dort auf Affen und auch
auf den Menschen über. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch ist bei
engem Kontakt möglich. Dass sich das Virus auch in Europa ausbreitet,
ist neu.

Die WHO ist mehrfach scharf kritisiert worden, weil sie zu spät auf
Bedrohungen reagiert hat. Nach dem Ebola-Ausbruch in Westafrika 2013
hat sie erst im August 2014 mit Notfallmaßnahmen reagiert. Mehr als
11 000 Menschen kamen ums Leben. Auch bei Corona wurde ihr das
vorgeworfen. Problem war aber mehr, dass sich viele Länder - auch
Deutschland - trotz aller WHO-Warnungen im Januar 2020 zu lange
fälschlicherweise gut gewappnet fühlten. Bis heute hat die WHO mehr
als 530 Millionen Corona-Infektionen und mehr als 6,3 Millionen
Todesfälle registriert. Sie geht von einer hohen Dunkelziffer aus.

Wie ist die Lage in Deutschland?

Mit Stand 23. Juni haben 14 Bundesländer Affenpocken-Nachweise
gemeldet, mit insgesamt rund 592 Betroffenen. Eine weitere Zunahme
wird erwartet. «Es scheint weiterhin möglich, den aktuellen Ausbruch
in Deutschland zu begrenzen, wenn Infektionen rechtzeitig erkannt und
Vorsichtsmaßnahmen umgesetzt werden», schreibt das Robert
Koch-Institut.