Sieben-Tage-Inzidenz über 500: Wie schlimm ist das? Von Gisela Gross, Martina Herzog, Larissa Schwedes und Valentin Frimmer, dpa

Die Sieben-Tage-Inzidenz steigt und steigt. Einst galt die Marke 50
als kritische Grenze - jetzt ist der Wert rund zehnmal so hoch. Was
bedeutet das für Deutschland?

Berlin (dpa) - Die Infektionszahlen kennen im Moment nur eine
Richtung: steil nach oben. So überstieg die vom Robert Koch-Institut
(RKI) gemeldete Sieben-Tage-Inzidenz am Sonntag erstmals die Marke
von 500. Vor nicht allzulanger Zeit galt noch 50 als kritische
Schwelle. Nun ist der Wert mit 515,7 mehr als zehn Mal so hoch.
Gleichzeitig sind große Teile der Bevölkerung geimpft, zudem gilt die
sich rasant ausbreitende Omikron-Variante als weniger krankmachend.
Auch deshalb ist ein Kollaps der Kliniken und anderer
wichtiger Bereiche bislang ausgeblieben. Doch die Frage steht
im Raum, was Deutschland bei einer Inzidenz jenseits der 500 blüht.

RKI-Präsident Lothar Wieler sieht mit der rasanten Ausbreitung der
neuen Omikron-Variante eine «neue Phase der Pandemie», in der weniger

die reinen Fallzahlen, sondern die Zahl der Schwerkranken
entscheidend sein werden. Doch bislang schlägt sich die Omikron-Welle
nicht auf die Intensivstationen nieder. Die Zahl der dort behandelten
Corona-Patienten ist seit der ersten Dezemberhälfte von rund 5000 auf
zuletzt 2799 (Samstag) zurückgegangen. Auch mussten laut RKI zuletzt
nur etwa halb so viele Menschen wegen Corona in eine Klinik als
Anfang Dezember - mit recht stabilen Werten in den vergangenen Tagen.
Allerdings schlagen sich hohe Infektionszahlen erst mit Verzug auf
Kliniken und Intensivstationen nieder, weil bis zur Einlieferung
einige Zeit vergeht.

Wieler warnt davor, dass durch die Masse an Infektionen - Omikron
verbreitet sich deutlich schneller als Delta - auch die Zahl der
Hospitalisierungen und der Todesfälle wieder steigen dürfte. Doch die
entscheidende Frage ist: Wie stark? Mit Blick auf Intensivstationen
sagt Christian Karagiannidis, wissenschaftlicher Leiter des
Divi-Intensivregisters: «Einen Wiederanstieg der Zahl der
Intensivpatienten in Deutschland dürften wir noch nicht ganz so
schnell sehen.» Während bei Delta rund jeder fünfte Corona-Patient,
der in ein Krankenhaus kam, intensivmedizinische Versorgung benötigt
habe, sei es bei Omikron nur ungefähr jeder Zehnte.

Die Frage, ab welcher Inzidenz - Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner
und Woche - in Deutschland in den kommenden Wochen erneut reagiert
werden muss, hängt für Karagiannidis maßgeblich davon ab, ob das
Omikron-Wachstum in Deutschland ebenfalls so rasant verlaufen wird
wie in anderen Ländern. «Im Moment erwarte ich eher, dass wir es
hierzulande gedämpft bekommen, durch die vergleichsweise guten und
strengen Maßnahmen, wie zum Beispiel 2G plus.» Noch seien aber nicht
alle Fragen in Hinblick auf deutsche Besonderheiten geklärt: «Offen
ist: Was passiert, wenn Omikron bei älteren und hochaltrigen Menschen
ankommt? Das bereitet mir noch Sorgen», sagte er. Die Inzidenzen in
Deutschland sind derzeit bei jungen Menschen deutlich höher als
bei Älteren.

Rechtzeitiges Gegensteuern bei wachsender Belastung hält
Karagiannidis in jedem Fall für möglich. «Es explodiert nicht alles
nach zwei Tagen.» Dass erneut Schwerkranke innerhalb Deutschlands
verlegt werden müssen, wie auf dem Höhepunkt der Delta-Welle Ende
2021, erwartet er derzeit nicht.

Wenn deutsche Experten ein Gefühl für einen möglichen weiteren
Verlauf der Pandemie bekommen wollen, geht der Blick auch
nach Großbritannien. Dort bremsen kaum Maßnahmen Omikron, und die
Inzidenz überstieg zeitweise die Schwelle von 2000. Damit lag sie
rund vier Mal so hoch wie in der Alpha-Welle vor einem Jahr. Die Zahl
der Menschen, die im Krankenhaus künstlich beatmet werden müssen, ist
jedoch deutlich niedriger: Durchschnittlich sind dies aktuell etwa
800 Patienten pro Tag, während dieser Wert vor einem Jahr im Schnitt
um die 4000 - also etwa fünf Mal so hoch - lag.

Der Mediziner Azeem Majeed vom Imperial College London hält die
Infektionszahlen aber auch in Omikron-Zeiten weiterhin für einen
wichtigen Indikator. Die Impfungen hätten zwar den Zusammenhang zur
Zahl der Krankenhauseinlieferungen geschwächt, aber nicht komplett
gebrochen, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.

Aufgrund der schieren Masse an Neuinfektionen ist der Druck im
67-Millionen-Einwohner-Land Großbritannien auf die Krankenhäuser
trotzdem groß. Dem «Guardian» zufolge haben seit Neujahr 24
Krankenhäuser den Ernstfall ausgerufen. Das Militär ist im Einsatz,
um Lücken zu stopfen. Tausende Notfallpatienten mussten in den
vergangenen Wochen stundenlang warten, bis sie behandelt wurden.

Allerdings ist die Lage in Großbritannien natürlich nicht eins zu
eins mit der in Deutschland vergleichbar. Hierzulande macht die recht
große Impflücke Fachleuten Sorge. Sollten die Intensivstationen doch
wieder volllaufen, muss die Politik wohl reagieren.

Besonderes Augenmerk gilt neben den Kliniken angesichts rasant
steigender Infektionszahlen auch anderen Bereichen der sogenannten
kritischen Infrastruktur. Dazu gehört zum Beispiel die Energie- und
Wasserwirtschaft, wo nach Angaben des Branchenverbands BDEW insgesamt
rund 282 200 Menschen arbeiten. Wie viele davon zum Schlüsselpersonal
gehören, etwa als Experten im Entstörungsdienst oder in Leitwarten,
kann der Verband nicht sagen.

Notfallpläne in den Unternehmen würden regelmäßig überprüft und
bei
Bedarf angepasst, erklärt der BDEW. «Insbesondere für das
Kernschlüsselpersonal bestehen seit Beginn der Pandemie besondere
vorsorgende Schutzmaßnahmen, um den Eintrag und die Ausbreitung von
Infektionen zu verhindern», heißt es. Bislang seien aber keine
Verschärfungen notwendig gewesen.

Für den Ernstfall vorgesehen sind laut BDEW zum Beispiel
Notfallschichtpläne mit verlängerten Arbeitszeiten oder die
Aufteilung in Teams, die keinen Kontakt miteinander haben. Zudem sei
zusätzliches Personal für besonders wichtige Prozesse geschult
worden. «Auch kürzlich in Ruhestand gegangene Beschäftigte können b
ei
Bedarf reaktiviert werden.»