Corona in der «chronischen Phase» - Was wird dann wichtig?

Ein globales Überwachungssystem ähnlich wie bei Grippe, angepasste
Impfstoffe zur Auffrischung - das sind wichtige Faktoren im weiteren
Umgang mit Corona. Doch an erster Stelle sollte eine andere Maßnahme
stehen, betonen Experten.

Berlin (dpa) - Das Coronavirus Sars-CoV-2 wird bleiben, selbst wenn
einmal der Großteil der Weltbevölkerung geimpft sein sollte - davon
geht inzwischen die Mehrheit der Experten aus. Die viel erwähnte
Herdenimmunität ändert daran nichts. Sie bedeutet, dass große
Infektionswellen unwahrscheinlich werden, nicht aber, dass das Virus
verschwindet. Dem Schweizer Online-Magazin «Republik» sagte
der Charité-Virologe Christian Drosten kürzlich: «Das war von Anfan
g
an ein Missverständnis, wenn man das so aufgefasst hat, dass
Herdenimmunität bedeutet: 70 Prozent werden immun - egal jetzt, ob
durch Impfung oder Infektion -, und die restlichen 30 Prozent werden
ab dann keinen Kontakt mehr mit dem Virus haben.»

Unwahrscheinlich wird ein Verschwinden auch durch das Auftreten immer
neuer Varianten. Wichtig wird es darum sein, die Verbreitung
bekannter und neu auftauchender Mutanten dauerhaft zu überwachen -
zum einen, um Impfstoffe anpassen zu können, und zum anderen, um
beginnende größere Ausbreitungswellen früh zu bemerken.

Da es sich um ein globales Problem handle, sei eine internationale
Struktur nötig, erklärte Isabella Eckerle, Leiterin der
Forschungsgruppe Emerging Viruses an der Universität Genf. «Besonders
jene Regionen, in denen der Zugang zu Impfstoffen limitiert ist und
die noch lange auf eine Durchimpfung der Bevölkerung warten müssen
und in denen gleichzeitig weitgehend unkontrollierte Viruszirkulation
stattfindet, stellen Risikogebiete für neue Varianten dar.» In die
Überwachung müssten auch bestimmte Nutz- und Wildtierpopulationen
eingeschlossen werden.

Ein Vorbild könne das Influenza-Überwachungssystem für die jährlich
en
Grippewellen sein, betonte Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe
Evolution von Viren und Bakterien am Biozentrum der Universität
Basel. «Hier besteht seit Jahren ein globales Netzwerk, das
Influenzaviren sammelt und Inzidenzen misst.» Alle sechs Monate gebe
es eine Empfehlung für die Zusammensetzung des Grippe-Impfstoffs.
Auch bei Covid-19 werde vermutlich eine regelmäßige Aktualisierung
der Impfstoffe nötig sein.

Der momentane Stand sei, dass die verfügbaren Impfstoffe gegen
Varianten wie Alpha und Delta in Bezug auf Ansteckungen etwas weniger
wirksam sind, gegen sehr schwere Verläufe aber weiterhin sehr gut
schützen, erklärte Annelies Wilder-Smith, Professorin für neu
auftretende Infektionskrankheiten an der London School of Hygiene and
Tropical Medicine.

«Da die Senkung der Sterblichkeitsrate das wichtigste Ziel der
öffentlichen Gesundheit in der derzeitigen Phase der Pandemie ist,
sollte der Schwerpunkt weiterhin darauf liegen, einen größeren Anteil
der Bevölkerung rasch zu impfen, anstatt Auffrischungsdosen
bereitzustellen.» Dies sei umso wichtiger, als die Welt nicht einmal
über genügend Impfstoffe verfüge, um jedem auch nur eine erste Dosis

zu verabreichen, so Wilder-Smith. Eine rasche Durchimpfung der
Bevölkerung sei zudem die beste Strategie, um die Entwicklung von
bedenklichen Varianten zu reduzieren.

«Global ist die wichtigste Maßnahme die möglichst schnelle und breite

Durchimpfung, so dass dem Virus weniger Gelegenheit gegeben wird,
durch evolutionären Druck neue Varianten entstehen zu lassen»,
betonte auch Isabella Eckerle. Es scheine erfreulicherweise so zu
sein, dass bei den Varianten oft die gleichen Mutationen entstünden -
das Virus habe womöglich nur ein begrenztes Repertoire an Mutationen,
um sich besser anzupassen. «Wenn es zeitnah auch Impfstoffe gegen
Varianten geben wird, die diese Mutationen abdecken, könnte sich
ebenso eine recht stabile Situation einstellen, in der das Auftreten
von immer weiteren, neuen Varianten ausbremst wird.»

Sind vor allem die Gruppen mit hohem Risiko, schwer zu erkranken,
weitgehend durchgeimpft, bedeutet das auch Entlastung für die
Kliniken - und ein Ende «pandemischen Denkens», wie der Präsident der

Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und
Notfallmedizin (DGIIN), Christian Karagiannidis, am Dienstag sagte.
Künftig werde Covid-19 eine Erkrankung des Klinikalltags werden und
den Schrecken einer in Wellen verlaufenden Pandemie verlieren - man
gehe «in eine chronische Phase» über.