Keine Bundestagswahl wie jede andere - Prognosen werden schwierig Von Anne-Beatrice Clasmann, dpa

In rund 100 Tagen ist es so weit. Die Deutschen wählen einen neuen
Bundestag. Schon jetzt steht fest, dass diese Wahl einen ganz
besonderen Platz in den Geschichtsbüchern beanspruchen wird.

Berlin (dpa) - Deutschland steuert auf eine ungewöhnliche
Bundestagswahl zu. Und zwar nicht nur, weil Wahlkampf und Stimmabgabe
wegen der Corona-Pandemie diesmal mit mehr Abstand laufen als sonst.
Es ist auch das erste Mal, dass ein Bundeskanzler - in diesem Fall
eine Bundeskanzlerin - nicht mehr selbst antritt, um das Amt zu
verteidigen. Und, schaut man auf aktuelle Umfragen, so erscheint es
zumindest möglich, dass erstmals seit der Nachkriegszeit jemand ins
Kanzleramt einziehen könnte, der nicht CDU oder SPD angehört.

DIE CORONA-PANDEMIE hat den Wahlkampf verändert. Viele
Parteiveranstaltungen liefen in den vergangenen Monaten digital ab.
Die Möglichkeiten, etwa die frisch nominierten Spitzenkandidaten auf
großer Bühne lautstark zu bejubeln, waren bei Video-Konferenzen sehr
eingeschränkt. Die Delegierten der AfD trafen sich zwar in Dresden
zum Präsenzparteitag. Sie bestimmten ihr Spitzenteam allerdings erst
später per Online-Befragung der Mitglieder.

Da es mit Abstand und Maske schwierig ist, fremde Menschen
anzusprechen, hat der Bundestag den kleineren Parteien die Zulassung
zur Wahl am 26. September erleichtert. Sie müssen dafür nur noch ein
Viertel der sonst vorgeschriebenen Unterstützer-Unterschriften
vorlegen. Die Regelung gilt für Parteien, die im Bundes- oder in
einem Landtag seit der letzten Wahl nicht ununterbrochen mit
mindestens fünf Abgeordneten vertreten sind.

BEI DEN SPITZENKANDIDATEN gibt es diesmal eine zweifache Premiere.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat früh angekündigt, dass sie
auf eine erneute Kandidatur verzichtet. Sie hat dies allerdings
getan, ohne das Kanzleramt vorzeitig zu verlassen, auch damit der
Kanzlerkandidat der Union - CDU-Chef und NRW-Ministerpräsident Armin
Laschet - mit Amtsbonus in den Wahlkampf geht. Das hat es in der
Geschichte der Bundesrepublik, in der fünf CDU-Mitglieder und drei
SPD-Politiker ins Kanzleramt einzogen - noch nicht gegeben.

Ein Novum ist zudem die Spitzenkandidatur der Grünen.
«Kanzlerkandidat» ist zwar kein Titel, der irgendeine formale
Bedeutung hätte. Schließlich stehen in Deutschland Parteien zur Wahl
und keine Kanzler. Traditionell stellen allerdings nur solche
Parteien einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin auf, die
auch tatsächlich Aussicht darauf haben, die Regierung zu bilden. Das
waren bislang ausschließlich die Union und die Sozialdemokraten.

Mit einer Ausnahme: Die FDP hatte mit Guido Westerwelle 2002 auch
einen Kanzlerkandidaten ins Rennen geschickt. Angesichts eines
Wahlergebnisses von 7,4 Prozent ernteten die Liberalen dafür
allerdings so viel Spott, dass es bislang bei diesem einen Versuch
blieb. Diesmal ist es eher die SPD, die sich fragen lassen muss, ob
sie es mit der Kanzlerkandidatur von Bundesfinanzminister Olaf Scholz
denn wirklich ernst meint. In jüngsten Umfragen liegen die
Sozialdemokraten bei rund 15 Prozent.

Die Grünen stehen dagegen aktuell - ebenso wie CDU und CSU - über 20
Prozent, und haben damit zumindest theoretisch eine echte
Machtoption. Sollte ihre Spitzenkandidatin Annalena Baerbock (40)
Kanzlerin werden, wäre sie die bislang jüngste Person auf diesem
Posten. Merkel war bei ihrem Amtsantritt 51 Jahre alt und damit
jünger als alle vorherigen Kanzler der Bundesrepublik.

FÜR DIE BRIEFWAHL werden sich wahrscheinlich mehr Wähler entscheide
n
als früher. Das war schon bei den zurückliegenden Kommunal- und
Landtagswahlen so. «Ich erwarte, dass der Briefwähler-Anteil diesmal
deutlich höher sein wird als bei der Bundestagswahl 2017 - auch wenn
die Pandemie im September schon weitgehend unter Kontrolle sein
sollte», sagt der Chef des Meinungsforschungsinstitutes Forsa,
Manfred Güllner.

Er sei kein Freund der Briefwahl, «weil zum einen die Entscheidung
von einem Stichtag auf einen mehrwöchigen Zeitraum verlagert wird».
Zum anderen sei die geheime Stimmabgabe dabei nicht gewährleistet,
«wenn zum Beispiel in einem Haushalt quasi kollektiv abgestimmt
wird». Einzelne Briefe könnten bei der Zustellung verloren gehen. Der
Wahlforscher sagt: «Außerdem sind vielfältige Manipulationen möglic
h,
allerdings nicht - so wie die AfD es behauptet - bei der Auszählung
der Stimmen.»

Zudem erschwert ein hoher Briefwahl-Anteil die Prognosen am Wahltag.
Denn da können ja nur die Menschen nach ihrem Stimmverhalten befragt
werden, die im Wahllokal gewählt haben. Güllner erklärt: «Da es unt
er
den Anhängern der AfD viele Briefwahl-Skeptiker gibt, gab es
beispielsweise bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und
Baden-Württemberg bei der Prognose um 18.00 Uhr höhere Werte für die

AfD als sie dann letztlich nach Auszählung aller Stimmen hatte.»

MIT DER CORONA-KRISE UND IHRER BEWÄLTIGUNG gibt es bei dieser
Wahl
nach Einschätzung des Forsa-Chefs ein Thema, das alles andere
überstrahlt. «Ich denke, dass die Bewältigung der Corona-Pandemie und

die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise die entscheidenden Themen
bei dieser Wahl sein werden», sagt der Meinungsforscher. Ob der
Klimaschutz diesmal ein wahlentscheidendes Thema sein werde, da sei
er sich dagegen nicht so sicher. An mehreren Schaltstellen der
Pandemie-Bekämpfung sitzen Unionspolitiker - allen voran
Gesundheitsminister Jens Spahn und die Kanzlerin. Damit zahlen Erfolg
oder Misserfolg hier wohl vor allem bei CDU und CSU ein. Wenn es mit
dem Impfen und der Rückkehr zur ökonomischen «Normalität» also bi
s
September gut vorangehen sollte, steigen die Chancen der
Schwesterparteien. Geht da noch mehr schief, könnten sich CDU und CSU
dagegen in der Opposition wiederfinden.