Impfen für fast alle: Praxen zwischen «Kraftakt» und Optimismus

Der Weg zu einer Spritze gegen das Coronavirus steht seit einigen
Tagen fast allen Hessen offen - und die Nachfrage ist groß. Gerade
die Praxen haben viel mit den Anfragen zu tun.

Wiesbaden (dpa/lhe) - Begehrter Piks: Das Interesse der Hessinnen und
Hessen an einer Corona-Schutzimpfung reißt nicht ab. Seit dem Ende
der Priorisierung am 7. Juni haben sich mehr als 144 000 Menschen im
Land für eine Spritze gegen das Virus in einem der 28 hessischen
Impfzentren registriert, wie das Innenministerium in Wiesbaden
mitteilte. Die Aufhebung der festen Impfreihenfolge machte sich dort
allerdings noch nicht bemerkbar, bei den Hausärzten dagegen schon.

Dass sich nun insbesondere alle Hessen ab 16 Jahren impfen lassen
können, habe in den Zentren zunächst keinen größeren Andrang zur
Folge gehabt, sagte ein Ministeriumssprecher. Denn viele Termine
müssten erst noch vergeben werden, was sich nach der Menge der
verfügbaren Impfstoffe richte. Zuerst sollen zudem jene rund 433 000
Personen an die Reihe kommen, die sich als Angehörige der bisherigen
Priorisierungsgruppen bereits registriert hatten, aber noch auf ihren
Termin warten.

Entsprechend hieß es etwa aus dem Impfzentrum in Marburg: «Wir gehen
davon aus, dass wir den Effekt durch die Aufhebung der
Impfreihenfolge erst später spüren werden», sagte ein Sprecher des
Kreises Marburg-Biedenkopf. Es komme auf die Terminvergabe-Praxis an,
auf die man keinen Einfluss habe.

Ruhig und geschäftsmäßig ging es am Donnerstagabend im Offenbacher
Impfzentrum zu: Es sei deutlich mehr zu tun als noch im April,
berichteten Mitarbeiter, doch auf Volllast fahre das Zentrum noch
nicht. Dafür gebe es nicht genug Impfstoff. Hauptsächlich seien hier
derzeit Zweitimpfungen an der Reihe.

Die Priorisierung, durch die Risikopatienten oder bestimmte Berufe
bei den Impfungen bevorzugt an die Reihe gekommen waren, gilt sei
Montag nicht mehr. Das betrifft nicht nur die Impfungen in den
Zentren, sondern auch bei den Haus-, Fach- oder Betriebsärzten. Die
Aufhebung spüren gerade die Allgemeinmediziner.

Diese habe sich «insofern bemerkbar gemacht, dass die Menge an
Impfwilligen noch zugenommen hat», sagte Armin Beck, der Vorsitzende
des Hausärzteverbandes Hessen. «Es gab mehr Kommunikation für die
Praxen, also mehr Anrufe, mehr Wünsche.» Mehr Impfstoff habe es nicht
gegeben, weil dieser im voraus bestellt werden müsse. «Damit war die
Option, mehr zu impfen, einfach gar nicht vorhanden. Das war in der
Kürze der Zeit nicht planbar.»

Während die Betriebsärzte erst seit dieser Woche mitimpfen, sind die
Hausärzte bereits seit April dabei. Seitdem gebe es einen «Run auf
die Praxen», so Beck. «Ich habe gedacht, das kann sich gar nicht
steigern, aber es ist dann nach Ende der Priorisierung doch so
gewesen.» Der Aufwand sei immens. «Es gab am Beginn auch Kollegen,
die organisatorisch das Handtuch geschmissen haben. Das sind wenige,
aber die gibt es. Der Rest hat eine Lösung für sich gefunden, wie sie
das Impfen in den Praxisablauf unterbringen.»

Bislang sind in den Haus- und Facharztpraxen des Bundeslandes nach
Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen mehr als 1,2
Millionen Corona-Impfungen durchgeführt worden. Rund zwei Drittel
dieser Praxen beteiligen sich demnach bisher an der Kampagne.

Auch der Wiesbadener Arzt Christian Sommerbrodt macht mit. Die Praxis
hat demnach bislang etwa 2500 Dosen verabreicht. Natürlich sei das
eine Herausforderung, gerade auch der Umgang mit den Präparaten.
Dennoch ließen sich die Impfungen in den Praxisablauf integrieren.
Auch Sommerbrodt berichtete von zahllosen Impf-Anfragen - und «einem
sehr munteren Tourismus». Denn nicht nur eigene Patienten meldeten
sich, sondern auch Impfwillige «von Berlin bis München».

Der Mediziner zeigte sich mit Blick auf die bislang im Land
verabreichten Impfdosen zuversichtlich: «Das ist jetzt nicht mehr
lange. Wir reden hier noch über ein paar Wochen, ein paar Monate,
durch die wir müssen, die für alle eine ganz große Herausforderung
sind, und dann wird es erheblich leichter werden.» Er schätzte, dass
die Praxen den größten Teil der Corona-Impfungen im Herbst geschafft
haben werden. «Ich bin durchaus ganz optimistisch, dass wir das
hinkriegen werden.» Auch wenn das alles ein «enormer Kraftakt» für

die Praxen sei und von den Patienten viel Geduld gefordert werde.

Aus Hausärzte-Sicht braucht es mehr Anerkennung, auch seitens der
Politik: «Der administrative Aufwand ist riesengroß. Daher würden wir

uns wünschen, dass da vielleicht ein Dank an die Helferinnen, an das
Praxispersonal kommt, die das ja in der Hauptsache organisieren und
wuppen», sagte der Vorsitzende Beck. «Dass man also überlegt, dass
diese Mitarbeiter - ähnlich wie das Klinik-Pflegepersonal - ein
Extrageld für ihre tolle Leistung bekommen, und sei es nur eine
steuerfreie Zahlung durch den Praxisinhaber.»