Kinder gegen Corona impfen? - Empfehlung der Impfkommission erwartet Von Gisela Gross, dpa

Deutschlands oberste Impfexperten sind skeptisch bezüglich der
Impfung von Kindern. Ihre Empfehlung zum Thema soll am Donnerstag
erscheinen. Doch wieviel Bedeutung hat ihr Votum überhaupt noch?

Berlin (dpa) - Was sie sagt, ist für Ärztinnen und Ärzte eine
wichtige Richtschnur: Die Ständige Impfkommission (Stiko) wird wohl
zunächst keine generelle Empfehlung zum Impfen von Kindern und
Jugendlichen gegen Corona aussprechen - obwohl sich alle ab 12
theoretisch seit Montag impfen lassen können. Dazu Fragen und
Antworten:

Was ist bisher bekannt?

Laut einem vorläufigen Entwurf empfiehlt die Stiko, dass nur Kinder
und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren geimpft werden sollen, die
bestimmte Vorerkrankungen haben. Das Gremium nennt in einem als
vertraulich gekennzeichneten Papier, das der Deutschen Presse-Agentur
vorliegt, rund ein Dutzend Krankheitsbilder, die mit anzunehmendem
erhöhtem Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf einhergehen.
Darunter sind etwa Adipositas, chronische Lungenerkrankungen mit
einer anhaltenden Einschränkung der Lungenfunktion und chronische
Niereninsuffizienz. Außerdem empfohlen wird die Impfung in dem
Entwurf Kindern, in deren Umfeld Menschen leben, die stark gefährdet
sind, einen schweren Covid-19-Verlauf zu bekommen - und die zum
Beispiel selbst nicht geimpft werden können.

Kann man ein gesundes Kind dennoch impfen lassen?

Ja, so hatte es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereits
angekündigt, ohne die Empfehlung der Stiko abzuwarten. Kinder und
Jugendliche sollen demnach in die Impfkampagne eingebunden werden. Es
sei dann eine individuelle Entscheidung von Eltern mit ihren Kindern
und den Ärzten. Wie es im Empfehlungsentwurf heißt, soll der Piks
«nach ärztlicher Aufklärung und bei individuellem Wunsch und
Risikoakzeptanz des Kindes oder Jugendlichen bzw. der
Sorgeberechtigten möglich» sein.

Welche Nebenwirkungen hat die Impfung?

Insgesamt bewerten die Autoren einer Studie im «New England Journal
of Medicine» die Impfung für die Kinder als gut verträglich, die
Impfreaktionen seien überwiegend mild bis moderat gewesen. Ähnlich
wie in anderen Altersgruppen klagten die Kinder am häufigsten über
Schmerzen an der Einstichstelle (79 bis 86 Prozent der Kinder nach
der ersten, beziehungsweise zweiten Dosis), Müdigkeit (60 bis 66
Prozent) und Kopfschmerzen (55 bis 65 Prozent). Etwa 20 Prozent
bekamen nach der zweiten Impfung Fieber.

Die Beschwerden verschwanden meist innerhalb von wenigen Tagen. Rund
die Hälfte der Kinder (50,8 Prozent) nahm nach der zweiten Spritze
ein Mittel gegen Fieber und Schmerzen ein. Schwere unerwünschte
Wirkungen wie Thrombosen oder einen anaphylaktischen Schock habe es
im Zusammenhang mit der Impfung nicht gegeben, berichten die
Wissenschaftler. Allerdings lässt die geringe Gesamtzahl von 1131
Geimpften nur bedingt Rückschlüsse über seltene Nebenwirkungen zu.

Warum will die Stiko bislang keine generelle Impfempfehlung geben?

Die Experten sprachen zuletzt mehrfach von Wissenslücken bezüglich
der Sicherheit des Impfstoffs in der Altersgruppe: Verwiesen wurde
auf die geringe Zahl an geimpften Probanden und eine kurze
Nachbeobachtungszeit. Hinzu kommt: Wenn sich gesunde Kinder mit
Sars-CoV-2 infizieren, haben sie laut Fachleuten ein sehr geringes
Risiko, schwer zu erkranken. In anderen Worten: Der Nutzen der
Impfung wiegt möglicherweise ihr Risiko nicht auf.

Rund 80 Kinder und Jugendliche wurden in der Pandemie bislang auf
Intensivstationen in Deutschland behandelt, davon hatten knapp zwei
Drittel Vorerkrankungen. Für Erwachsene mit Covid-19 wurden bislang
mehr als 112 000 abgeschlossene Intensiv-Behandlungen erfasst (pro
Patient kann wegen Verlegungen mehr als eine Behandlung gezählt
sein).

Was kann für eine Impfung eines gesunden Kindes sprechen?

«Aus Elternperspektive wäre mein Kind geimpft. Klarer Fall. Dieses
Risiko möchte ich nicht», sagte der Charité-Virologe Christian
Drosten kürzlich dem Schweizer Online-Magazin «Republik». Er
argumentiert mit Langzeitfolgen wie Geruchs- und Geschmacksverlust
und Müdigkeit bei einem kleinen Teil der Betroffenen und dem Risiko
des sogenannten Pädiatrischen Multisystem-Inflammationssyndroms. Dies
ist eine schwere Erkrankung Wochen nach der Infektion, die bisher
aber als selten und gut behandelbar gilt.

Von Langzeitfolgen (Long Covid/Post Covid) betroffen sind nach
Schilderungen von Ärzten eher Jugendliche als kleine Kinder. Solche
länger anhaltenden Einschränkungen kennen Mediziner auch von anderen
Virusinfektionen wie dem Pfeifferschem Drüsenfieber. Auch die
Pandemie mit Lockdown als Stressfaktor an sich spielt aber wohl eine
Rolle: «Wenn sich die Pandemiesituation bessert, dürften zumindest
bei einem Teil der Betroffenen auch die Ermüdungsanzeichen besser
werden», hatte Markus Hufnagel vom Zentrum für Kinder- und
Jugendmedizin der Universitätsklinik Freiburg im Frühjahr gesagt.

Welche Bedeutung hat eine Stiko-Empfehlung?

Was die Stiko nach Aufarbeitung wissenschaftlicher Daten empfiehlt,
gilt in Deutschland als medizinischer Standard. Normalerweise ist ihr
Urteil wichtig für Fragen der Haftung und der Kostenübernahme durch
die gesetzlichen Krankenkassen. Bei der Corona-Impfkampagne ist dies
aber ohnehin über den Bund geregelt. Formal sei das Impfen auch ohne
Stiko-Empfehlung möglich, es widerspreche aber «einer seit jeher
etablierten Praxis», erklärte die Deutsche Gesellschaft für
Allgemeinmedizin und Familienmedizin kürzlich. Beklagt wurde ein
Vertrauensverlust durch «das Vorpreschen einiger politischer
Entscheidungsträger». In einer weiteren Stellungnahme stärkten 30
medizinische Fachgesellschaften ebenfalls der Stiko den Rücken.

Warum unterscheiden sich die Einschätzungen von Stiko und
EU-Einrichtungen?

Die europäische Arzneimittelbehörde EMA und die EU-Kommission gaben
kürzlich grünes Licht für die Zulassung des
Biontech/Pfizer-Impfstoffs ab zwölf Jahren - die Stiko schränkt
hingegen ein. Das mag verwirrend klingen, hat aber nichts mit
vermeintlich verschiedenen Meinungen zu tun. Die Institutionen haben
unterschiedliche Aufgaben und Blickwinkel: Die EMA ist für die
grundsätzliche Zulassung auf dem europäischen Markt zuständig,
während es bei der Stiko darum geht, den Einsatz des Impfstoffs zum
besten Nutzen der Bevölkerung in Deutschland zu regeln. In anderen
Ländern, etwa mit höheren Fallzahlen oder höheren Anteilen von
Kindern an der Bevölkerung, können die Überlegungen anders aussehen.


Werden Impfungen aller Kinder zwingend für Herdenimmunität gebraucht?

Das hängt auch von der weiteren Entwicklung der Pandemie und der
Impfbereitschaft unter Erwachsenen ab. Minderjährige haben einen
Anteil von 16,4 Prozent an der Bevölkerung hierzulande - für Kinder
unter zwölf Jahren ist bisher aber gar kein Impfstoff zugelassen. Als
Schwelle für den weitgehenden Verzicht auf Maßnahmen und Regeln
müssen laut RKI mehr als 80 Prozent der Bevölkerung immun sein,
entweder durch eine vollständige Impfung oder eine durchgemachte
Infektion plus Impfung. Sollte sich eine ansteckendere Virusvariante
durchsetzen, könnten noch mehr Immune nötig sein. Bislang hat rund
die Hälfte der Menschen im Land noch nicht einmal eine erste Dosis
bekommen.

Im Gegensatz zur Situation bei der Grippe gelten Kita- und
Grundschulkinder nicht als besondere Treiber der Pandemie. Stiko-Chef
Thomas Mertens schätzte den Nutzen von Kinder-Impfungen für die
Herdenimmunität kürzlich als gering ein: «Man sollte die Hoffnung auf

den epidemiologischen Effekt nicht übertreiben.» Manche Fachleute
äußerten auch die Hoffnung auf abschirmende Effekte durch hohe
Impfquoten bei Erwachsenen - ob dies aber für einen normalen
Schulbetrieb im Herbst und Winter ausreicht, ist die große Frage.

Gibt es überhaupt schon genügend Impfstoff für Kinder?

Die streng festgelegte Reihenfolge bei der Corona-Impfung ist seit
diesem Montag bundesweit aufgehoben. Mit dem Ende der sogenannten
Priorisierung haben alle ab zwölf Jahren nun zumindest theoretisch
die Möglichkeit, einen Impftermin zu bekommen. Impfstoffe sind aber
weiter rar, speziell für Kinder reservierte Dosen gibt es nicht. Für
mehrere Experten ein Argument, mit dem Immunisieren gesunder Kinder
zu warten: Es gebe noch zu viele gefährdete Erwachsene ohne Impfung.