Gegenwind für Bundes-Notbremse: Was dennoch im Gesetz stehen könnte Von Theresa Münch, dpa

Keine Bund-Länder-Runden bis tief in die Nacht, stattdessen ein
Gesetz: Überall in Deutschland sollen die gleichen Corona-Regeln
gelten - und niemand soll sich mehr rausreden können. Um die Details
jedoch ist ein Tauziehen entbrannt.

Berlin (dpa) - Der Bund hat vorgelegt, doch in den Ländern und im
Bundestag regt sich Widerstand: Beim Ringen um einheitliche Maßnahmen
gegen die dritte Corona-Welle geht es längst nicht nur um Inhalte,
sondern auch um Macht. Ob die Bundesregierung ihren Zeitplan
einhalten kann, das neue Infektionsschutzgesetz am Dienstag auf den
Weg zu bringen, ist ungewiss. Genauso, was am Ende drinstehen wird.

Lange hatte der Bund zugeschaut, wie die Länder gemeinsam getroffene
Corona-Beschlüsse interpretierten: Hier Schulen auf, dort zu, hier
Ausgangsbeschränkungen, dort nicht. Die dritte Infektionswelle rollte
an, alle sprachen von einer «Notbremse» - doch traten unterschiedlich
fest aufs Bremspedal. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler
Olaf Scholz (SPD) nahmen sich über Tage ihre Pappenheimer vor. Das
Ergebnis: Der Bund greift ein, die Anti-Corona-Maßnahmen sollen
vereinheitlicht werden. Doch schon nach wenigen Tagen zeigt sich,
dass die Einigkeit doch nicht so groß ist.

Es geht um die zentrale Frage: Was passiert, wenn in Landkreisen die
Sieben-Tage-Inzidenz auf mehr als 100 Neuinfektionen pro 100 000
Einwohner steigt? Das soll möglichst schon kommende Woche gesetzlich
geregelt werden. Angesichts der vollen Intensivstationen drängt die
Zeit - nach derzeitigem Stand wäre mehr als die Hälfte aller
Landkreise von dem Gesetz betroffen. Doch mehrere Beteiligte machten
bereits am Wochenende klar: Den Vorschlägen des Bundes für strenge
Maßnahmen wollen sie so nicht zustimmen. Der erste Entwurf müsse
überarbeitet werden. Über folgende Vorschläge wird debattiert:

PRIVATE KONTAKTE: Dass Treffen in der Öffentlichkeit und zu Hause
eingeschränkt bleiben, scheint kaum umstritten. Wissenschaftlichen
Studien zufolge gehören strenge Kontaktbeschränkungen zu den
wirksamsten aller Corona-Maßnahmen und reduzieren die Verbreitung des
Virus geschätzt um bis zu ein Viertel. Künftig könnte überall wiede
r
gelten: Ein Haushalt darf sich maximal mit einer weiteren Person
treffen, Kinder rausgerechnet dürfen es maximal fünf Personen sein.

AUSGANGSBESCHRÄNKUNGEN: Hier gehen die Meinungen stark auseinander.
Der Plan des Bundes: Zwischen 21.00 und 5.00 Uhr soll man das Haus
nur noch in Ausnahmefällen verlassen dürfen, etwa bei medizinischen
Notfällen oder für den Weg zur Arbeit, aber nicht für Spaziergänge

oder Joggingrunden. FDP-Chef Christian Lindner hat dafür kein
Verständnis: Vom abendlichen Spaziergang eines geimpften Paares gehe
schließlich keinerlei Infektionsgefahr aus. Die
Ausgangsbeschränkungen seien «ein unverhältnismäßiger und
epidemiologisch unbegründeter Eingriff in die Freiheit der
Bürgerinnen und Bürger». Ähnlich sieht das die Linke.

Forscher der Universität Oxford gehen davon aus, dass nächtliche
Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung des Virus um rund 13 Prozent
reduzieren können. Berliner Wissenschaftler warnten allerdings, dass
sich die Menschen schon bald einfach zu anderen Zeiten treffen
werden. Daher könne dieses Werkzeug «relativ schnell stumpf werden».


TESTS IN SCHULEN UND BÜROS: Im Gespräch ist, dass Schulen nur reg
ulär
öffnen dürfen, wenn alle Schülerinnen und Schüler mindestens zweima
l
pro Woche getestet werden. Ab einer 200er-Inzidenz - derzeit in mehr
als 40 Landkreisen - sollen die Schulen mit Ausnahmen für
Notbetreuung und Abschlussklassen ganz zumachen. Daran gab es
zunächst wenig Kritik. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt
allerdings forderte schon ab einer 100er-Inzidenz verpflichtenden
Wechselunterricht. Kitas sollten nur noch Notbetreuung anbieten.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) dagegen meint,
der Bund sollte sich bei den Schulen überhaupt nicht einmischen.

Zugleich zeichnet sich ab, dass die SPD die Reform nutzen will, um
eine Testpflicht für Betriebe durchzusetzen. Mindestens einmal die
Woche müsse jedes Unternehmen seinen Mitarbeitern einen Test
anbieten, das solle am Dienstag gleich mitbeschlossen werden, sagte
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Auch Grüne und Linke meinen, es
müsse mehr Regeln für Unternehmen geben, auch zu Homeoffice und
Maskenpflicht am Arbeitsplatz. Die Union und die Wirtschaft stemmen
sich bislang dagegen.

Auf Schnell- und Selbsttests kann man sich nach wissenschaftlichen
Erkenntnissen ohnehin nicht hundertprozentig verlassen. «Selbsttests
sind keine Wunderwaffe», sagte der Präsident des Robert
Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, bereits im Februar. Ein
negatives Ergebnis ist eine reine Momentaufnahme und schließt eine
Infektion nicht grundsätzlich aus. Vor allem bei Infizierten ohne
Symptomen besteht nach bisherigem Wissen durchaus die Gefahr falscher
Ergebnisse. Was aber niemand weiß: Ob diejenigen mit falsch-negativem
Ergebnis überhaupt für andere ansteckend gewesen wären oder nicht.

LÄDEN: Geht es nach dem Willen des Bundes, müssten Modellprojekte mit
Ladenöffnungen für Getestete in Kreisen mit hohen Infektionszahlen
gestoppt werden. Ab der 100er-Inzidenz sollen wieder nur Supermärkte,
Getränkemärkte, Apotheken, Drogerien, Tankstellen, Buchhändler,
Blumenläden und Gartenmärkte öffnen dürfen. Das sehen die Kreise un
d
auch die FDP nicht ein. Lindner kritisierte fehlenden Raum für
Modellprojekte, mit denen man die Wirksamkeit alternativer
Schutzvorhaben erproben könnte. Der Landkreistag beschwerte sich,
dass «verantwortbare Modellversuche über einer Inzidenz von 100»
praktisch unterbunden würden.

FREIZEIT UND SPORT: Auch hier müssten sich einige Landkreise nach den
Plänen des Bundes von Öffnungsplänen etwa für Theater verabschieden
.
Der Entwurf sieht vor, dass nicht nur Konzerthäuser, Bühnen und Kinos
geschlossen bleiben, sondern auch Museen, Schwimmbäder, Zoos und
botanische Gärten. Seilbahnen und Ausflugsschiffe könnten stillstehen
und auch Stadt- und Naturführungen untersagt sein. Sport könnte
bundesweit nur noch alleine, zu zweit oder mit dem eigenen Haushalt
erlaubt sein, auch wieder für Kinder und Jugendliche. Ausnahme:
Wettkampf und Training von Leistungssportlern.

TOURISMUS UND GASTRONOMIE: Hier gab es bis zuletzt die wenigsten
Öffnungen - und es sind wohl auch keine in Sicht. Restaurants,
Kneipen, Hotels und Ferienwohnungen müssen in Landkreisen mit
100er-Inzidenz wahrscheinlich zu bleiben. Der Verband der Eigentümer
von Ferienwohnungen und Ferienhäusern betonte aber, in Landkreisen
mit niedriger Inzidenz seien Öffnungsmöglichkeiten in Sicht.

LOCKDOWN-LÄNGE: Die im Gesetz geregelten Maßnahmen sollen so lange
gelten, bis ein Landkreis an drei aufeinanderfolgenden Tagen unter
die 100er-Inzidenz rutscht. Zwischen wenigen Tagen und mehreren
Monaten ist also alles drin. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer
forderte allerdings in der «Welt», das Gesetz müsse zeitlich
befristet werden - «das heißt, es muss automatisch auslaufen». Die
Spitze der SPD-Fraktion verlangt schon jetzt eine Festlegung, was bei
niedriger Inzidenz als erstes geöffnet werde.

DIE MACHTFRAGE: Landkreise und einzelne Landespolitiker fühlen sich
durch die Bundes-Notbremse entmachtet. So warnte Niedersachsens
Innenminister Boris Pistorius (SPD), der Bund habe keine Expertise
für Krisenbewältigung. «Deshalb wäre es auch keine gute Idee, die
Länder jetzt mitten in der Krise zu entmachten. Das wäre ein großer
Fehler», sagte er der «Welt». Die Corona-Regeln sollten auch künfti
g
regional an das Infektionsgeschehen angepasst werden. Auch
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne)
schimpfte: «Diesen Einheitswahn teile ich überhaupt nicht.» Der
Landkreistag wertete die Vorschläge des Bundes als «ein in Gesetz
gegossenes Misstrauensvotum gegenüber Ländern und Kommunen».