Videosprechstunde beim Arzt - zunehmend gefragt und kritisiert Von Nikolaus Nützel, dpa

Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung in der Medizin einen
Schub verschafft. Die Videosprechstunde beim Arzt wird mittlerweile
millionenfach von Patienten angenommen. Das Wachstum sorgt für Freude
bei den Plattformanbietern, erzeugt aber auch Kritik.

München (dpa) - Die Telemedizin in Deutschland wächst rasant. «Corona

hat uns in diesem Bereich um fünf Jahre nach vorne katapultiert»,
sagt die Geschäftsführerin der Münchner Teleclinic GmbH, Katharina
Jünger. In ihrer Branche sind fünf Jahre eine lange Zeit. Ihr
Unternehmen, das eine der großen Plattformen für Telemedizin in
Deutschland betreibt, hat Jünger vor sechs Jahren gegründet.
Zusätzlichen Schub erhofft sich die Teleclinic-Chefin von einer
Gesetzesreform, mit der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU)
Online-Behandlungen weiter erleichtern möchte. So sollen auch
Physiotherapeuten und Hebammen Patienten über Computer und Smartphone
unterstützen können.

Auch das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (ZI) hat
nach Ausbruch der Corona-Pandemie einen sprunghaften Anstieg der
Videosprechstunden beobachtet - rund 1,7 Millionen zählte das
Institut zwischen März und September 2020. «Im Vergleichszeitraum
2019 waren es praktisch null», sagt der ZI-Geschäftsführer Dominik
von Stillfried. Allerdings hält er den Zeit- und
Organisationsaufwand, den Ärzte mit Videosprechstunden haben, oftmals
für ein beträchtliches Hindernis. «Für die Praxen sind
Online-Kontakte sehr ineffizient im Vergleich zu den normalen
Sprechstunden.»

Nach einer Umfrage des Digital-Branchenverbands Bitkom bieten rund 17
Prozent der Praxisärzte Videosprechstunden an. Weitere 40 Prozent
können sich ein solches Angebot vorstellen. «Wir sehen hier eine
extrem starke Offenheit», sagt der Hauptgeschäftsführer, Bernhard
Rohleder

Zu den Medizinern, die schon sehr früh offen für Videosprechstunden
waren, gehört der Münchner Hausarzt Markus von Specht. Als er vor
sechs Jahren begann, seine Patienten auch online aus der Ferne zu
behandeln, war er damit in der Ärzteschaft noch ein Exot. Die
Nachfrage der Patientinnen und Patienten habe gerade mal gereicht, um
eine Video-Stunde in der Woche zu füllen. Jetzt hat er eine tägliche
Onlinesprechstunde. «Und die ist immer ausgebucht», erzählt er. Als
technischen Dienstleister hat er die deutsche Tochter der
französischen Firma Doctolib beauftragt.

Die Internet-Plattform, die auch einen Schwerpunkt auf die
Terminvereinbarung legt, wird nach eigenen Angaben in Deutschland
jeden Monat von mehr als vier Millionen Nutzern besucht. Doctolib
will den Rückenwind der Pandemie für weiteres Wachstum nutzen, ebenso
wie die deutsche Tochter des schwedischen Anbieters Kry.

Schon Anfang 2020 haben die Schweden bekannt gegeben, dass sie von
Investoren 140 Millionen Dollar für eine weitere Expansion
eingesammelt haben. Die medizinische Direktorin von Kry Deutschland,
Monika Gratzke, sagt: «Mit dem Geld können wir Technologien umsetzen,
die zu einer besseren Versorgung der Patienten im deutschen
Gesundheitswesen führen.»

Große Wachstumschancen für sein Unternehmen sieht auch der
Geschäftsführer des Münchner Telemedizin-Unternehmens Jameda, Florian

Weiß. Die Firma, die als Arzt-Bewertungsportal bekannt geworden ist,
hat ihr Geschäft mit der Digitalisierung der ärztlichen Behandlung
mittlerweile auf mehrere Bausteine ausgeweitet. Weiß sagt, es gehe
nicht um eine Technisierung der Medizin. «Die Beziehung zwischen Arzt
und Patient steht dabei im Mittelpunkt.»

In der Ärzteschaft stoßen die Initiativen zu einer Ausweitung der
Telemedizin auf ein geteiltes Echo. Der Präsident der
Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, ist sicher: «Wir werden da noch
interessante Modelle erleben können.» Er fügt aber hinzu:
«Bauchschmerzen können Sie nicht online behandeln.» Mit Skepsis sieht

Reinhardt, dass sich in der Telemedizin große Unternehmen immer
stärker engagieren. Jameda wurde 2015 vom Medienkonzern Burda
übernommen. Die Schweizer Zur Rose Group AG kaufte im Sommer 2020 die
Teleclinic. Zur Unternehmensgruppe gehört auch das Portal DocMorris,
das Online-Vertrieb von Medikamenten betreibt.

Ärztepräsident Reinhardt befürchtet Zielkonflikte, wenn Ärzte mit
einem Unternehmen zusammenarbeiten, das ein wirtschaftliches
Interesse daran hat, möglichst viele Medikamente zu verkaufen. «Ich
sehe das hochkritisch», sagt Reinhardt. Die Ärztekammer prüfe, ob
diese Konstruktion rechtlich Bestand haben kann.
Teleclinic-Geschäftsführerin Katharina Jünger zeigt sich gelassen:
«Selbstverständlich passen wir da auf.»

Nicht nur von der Spitze der Bundesärztekammer gibt es Vorbehalte
dagegen, dass sich in der Online-Medizin immer größere Allianzen
bilden. Der Münchner Hausarzt von Specht sieht eine Gefahr: «Dass
finanzielle Interessen den größten Raum einnehmen und dass es nicht
um die bessere Patientenversorgung geht.»