Leben in Chaos und Müll: Im Lockdown steigt Leidensdruck von Messies Von Elke Richter, dpa

Sie leben in randvoll gepackten Wohnungen, manche buchstäblich im
Müll: Messies. Sofern sich nicht die Nachbarn über Gestank beschweren
oder die Statik unter der Last einzubrechen droht, bleibt ihr Leiden
oft über Jahre unentdeckt. Im Lockdown spitzt sich die Lage zu.

München (dpa) - Wenn Michael Schröter die Wohnungen seiner Kunden
betritt, verschlägt es ihm oft den Atem. Als erstes reißt er dann
sämtliche Fenster auf - wenn er es denn schafft, zu ihnen
durchzudringen. Denn Schröter entrümpelt die Wohnungen von Messies.
Deren Zimmer sind mit Kartons, Säcken, Tüten, teils auch Müll derart

vollgestopft, dass kaum ein Durchdringen ist. Die Betroffenen leiden
oft sehr unter ihrer Situation. Nach Monaten im Lockdown nimmt die
Zahl der Hilferufe zu.

«Die Corona-Krise deckt vieles auf, was vorher zugedeckt war. Die
Menschen wissen oft gar nicht mehr, wer sie sind und was sie wollen,
wenn ihnen etwas wegbricht, beispielsweise die Arbeit», sagt
Schröter, der in München das Messie-Hilfe-Team gegründet hat und auch

spezialisierte Entrümpler schult. Außerdem entfalle mit den
Kontaktbeschränkungen die soziale Kontrolle.

Vor der Pandemie gingen maximal 6 Anrufe Betroffener am Tag bei
Schröter ein, derzeit sind es zwischen 15 und 20. Auch Wedigo von
Wedel vom bundesweiten Messie-Hilfe-Telefon nimmt wahr, dass die
Krise wie ein Katalysator wirkt. «Die Problematik schwelt in
Tausenden Haushalten», berichtet von Wedel. «Und in den aktuellen
Krisenzeiten fällt ja schon den «Normalwohnenden» die Decke auf den
Kopf. Aber dieser Personenkreis ist oft alleinwohnend, die lassen
niemanden in die Wohnung, und da spüren wir schon, dass sich die
Krise verschärft - und auch der Leidensdruck.»

Obwohl inzwischen anerkannt ist, dass es sich beim zwanghaften Horten
ebenso wie beim Vermüllungssyndrom um eine psychische Störung
handelt, gibt es dazu bislang kaum wissenschaftliche Forschung.
Entsprechend gibt es auch kaum belastbare Fakten. Experten gehen sehr
grob geschätzt von um die 1,5 Millionen Betroffenen in Deutschland
aus, es finden sich aber auch deutlich höhere Zahlen. Auch über die
Ursache der Störung gehen die Meinungen auseinander.

«Natürlich gibt es fließende Übergänge, aber die wirklich kranken

Messies haben vom Ursprung her eine Zwangsstörung», sagt etwa Christa
Roth-Sackenheim, die Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher
Psychiater. «Das heißt, die müssen immer und immer wieder
kontrollieren, ob sie die Dinge nicht doch noch einmal gebrauchen
könnten, bevor sie sie wegwerfen. Das geht bis zum Horten von Müll.»

Solche Zwangsstörungen seien zu einem sehr hohen Anteil genetisch
bedingt.

Pädagoge von Wedel hingegen vertritt die Ansicht, dass es sich in der
Regel um eine Mischung aus mehreren Krankheitsgrundlagen wie Angst-
und Zwangsstörungen oder Suchtstrukturen handelt und Depressionen
immer eine Rolle spielen. Zudem hat er ebenso wie Entrümpler Schröter
die Erfahrung gemacht, dass nahezu alle Messies Bindungsstörungen
haben und in der frühen Kindheit unter schmerzhaften Trennungen von
engen Bezugspersonen litten.

Einig sind sich die Fachleute darin, dass das Problem sehr häufig und
oft über lange Zeit unentdeckt bleibt. «Je mehr das fortschreitet,
desto schambesetzter ist es, und desto weniger kommt man an die Leute
ran», erzählt Roth-Sackenheim. «Das ist natürlich auch sozial
isolierend, weil die Leute niemanden mehr Zuhause empfangen können.»

Meist sind die Betroffenen Alleinstehende. Bei Alter und Geschlecht
scheint es kaum Unterschiede zu geben, doch sind viele gut
ausgebildet. «Manche leben zuhause komplett vermüllt, haben aber
intellektuell hochrangige Jobs, gehen wie aus dem Ei gepellt aus dem
Haus und haben nach außen hin ein ganz normales Umfeld», schildert
Roth-Sackenheim.

Auch Schröter und von Wedel, Geschäftsführer des Münchner Vereins
H-Team für Bürger in sozialen Nöten, treffen auffällig häufig auf

Leistungsträger unter den Hilfesuchenden. Von Wedel sieht darin einen
Hinweis auf mögliche Ursachen der Störung. «In bildungsbürgerlichen

Familien, die sehr leistungsorientiert sind, wo aber der Aufbau von
Selbstwert in der Familie gestört ist oder nicht stattfindet, gibt es
diese Diskrepanz, dass man funktionieren muss, der Schein nach außen
stimmen muss, dass aber die emotionale Zuwendung, die Stärkung von
Persönlichkeit, Bedürfnisorientierung dort mitunter rigide
unterdrückt ist - das finden wir in den Biografien sehr häufig.»

Die vollgestopfte Wohnung erfüllt dann die Funktion, die innere Leere
zu füllen oder das innere Chaos zu spiegeln. Angehörige oder Freunde
sollten deshalb niemals einfach gegen den Willen der Betroffenen
ausmisten - das fein austarierte seelische Gleichgewicht könnte sonst
kippen und Panik auslösen.