Lernprobleme durch Distanzunterricht - Experten für mehr Hilfen

Der monatelange Distanzunterricht hat vielen Schülern in Hessen zu
schaffen gemacht. Weil persönliche Kontakte zu den Lehrern fehlen,
wachsen Lernprobleme und Wissenslücken. Wie lässt sich gegensteuern?

Frankfurt (dpa/lhe) - Die lange Phase der Distanzbeschulung birgt
nach Einschätzung von Bildungsexperten vor allem bei
Grundschulkindern das Risiko der Ausbildung von Lernschwierigkeiten.
Je jünger Kinder seien, desto stärker seien sie beim Einstieg in die
Schriftsprache und Mathematik auf individuelles Feedback angewiesen,
sagte Marcus Hasselhorn vom Frankfurter DIPF Leibniz-Institut für
Bildungsforschung und Bildungsinformation der Deutschen
Presse-Agentur. Bereits seit längerem fordert die Lehrer-Gewerkschaft
GEW, zusätzliches Personal einzustellen, um die Schüler intensiver
unterstützen zu können.

Gerade bei der Beschulung von Klassen mit durchschnittlich 20 Kindern
über digitale Technik könnten die Lehrkräfte nur schwer auf das
individuelle Verständnis und möglichen Förderbedarf von
Grundschulkindern eingehen, sagte Hasselhorn. Hinzu komme: Kinder aus
bildungsfernen Schichten sowie mit bereits vor der Corona-Krise
bestehenden Lernschwierigkeiten dürften nun noch stärker abgehängt
werden, erwartet der Experte.

Zwar verhinderten in Deutschland rigide Datenschutzbestimmungen
aussagekräftige Analysen zur Lernsituation der Kinder, sagte
Hasselhorn. Daher stütze sich das DIPF bei seinen Empfehlungen auf
Daten aus Nachbarländern wie der Schweiz mit einem ähnlichen
Schulsystem wie Deutschland. Kürzlich seien dort Analysen der durch
die Schulschließung bedingten Leistungseinbußen bei rund 350 000
Schülern vorgelegt worden. Auf Basis dieser Daten geht das Institut
davon aus, dass auch hierzulande derzeit rund 15 Prozent der
Grundschüler nicht die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und
Rechnen erfüllen, wie Hasselhorn sagte.

Diese Einschätzung habe auch für «Bewegung» im hessischen
Kultusministerium gesorgt, so der Experte. Für die betroffenen Kinder
könnten zwar Einzelsitzungen hilfreich sein, doch sei das angesichts
einer Vielzahl weiterer Aufgaben für die Lehrkräfte in der
erforderlichen Menge kaum leistbar. In Hessen sollen betroffene
Grundschüler deshalb mithilfe spezieller Förderprogramme unterstützt

werden. «Es geht darum, zu vermeiden, dass die Kinder eine Lese- und
Rechtschreibschwäche oder Dyskalkulie ausbilden», sagte Hasselhorn.
Denn rasch könne sich dadurch ein «Teufelskreis» aus
Verständnisschwierigkeiten, schlechten Zensuren und Demotivation auch
für die folgenden Schuljahre entwickeln.

Durch Homeschooling und Distanzunterricht bedingte Lerndefizite
machen sich nach Einschätzung privater Nachhilfeanbieter wie der
Schülerhilfe aber auch bei älteren Schülern bemerkbar. Viele Eltern
seien mit dem Homeschooling überfordert und verunsichert, wie es um
den aktuellen Leistungsstandard der Kinder stehe, teilte das
Unternehmen auf Anfrage mit. Häufig werde auch von mangelnder
Selbstorganisation und Konzentrationsschwierigkeiten aufgrund der
langen Lernzeit am PC berichtet, heißt es von dem Unternehmen, das
neben Studienkreis, Lernstudio Barbarossa und weiteren Anbietern zu
den privaten Nachhilfe-Instituten gehört.

Um auch Schülern höherer Klassen mit Lernschwierigkeiten zu helfen,
plant das hessische Kultusministerium weitere Angebote, wie ein
Sprecher sagte: So sollen in den Oster- und den Sommerferien wieder
Feriencamps und -akademien angeboten werden, über die verpasster
Schulstoff nachgeholt werden kann. Die Organisation liege bei den
Schulen, das Ministerium werde Geld für entsprechendes Personal zur
Verfügung stellen, sagte der Sprecher. In den Sommerferien 2020 seien
rund 20 000 der hessenweit rund 760 000 Schüler über die
Ferienakademien gefördert worden, das habe auch in etwa dem Bedarf
entsprochen.

Wie die Nachfrage in diesem Jahr ausfalle, bleibe abzuwarten. Vorteil
des Angebotes sei, dass der Stoff nach der langen Zeit des
Distanzunterrichts vor Ort und nicht über digitale Technik vermittelt
werde. Während der Corona-Pandemie habe «der persönliche Faktor noch

mehr an Bedeutung gewonnen», sagte der Sprecher. Neben den Oster- und
Sommerferienangebote arbeite das Ministerium an einem ganzen Bündel
weiterer Maßnahmen. Zur Frage der Versetzung von Kindern mit
erkennbaren Lerndefiziten sei man noch in Gesprächen, sagte der
Sprecher. Im vergangenen Jahr hatte das Ministerium die Devise
ausgegeben, dass kein Kind zurückgelassen werde.

Erst am Dienstag war bekanntgeworden, dass die hessischen Schüler vor
einer Rückkehr in den Präsenzunterricht stehen. So soll für die
Grundschüler nach den Osterferien ab Mitte April der eingeschränkte
Regelbetrieb mit fünf Tagen pro Woche Unterricht gelten, wie das
Kultusministerium bekanntgab. Für alle Klassen ab Jahrgangsstufe fünf
soll dann die Schule im Wechselunterricht möglich sein. Noch vor den
Osterferien ab 22. März werden zudem Präsenztage in den Klassen ab
Jahrgangsstufe sieben eingerichtet, um auf den Wechselunterricht
vorzubereiten. Dabei ist mindestens ein Präsenztag pro Woche in der
Schule vorgesehen. Voraussetzung für diese Öffnungsschritte ist
jedoch laut Ministerium, dass der landesweite Corona-Inzidenzwert
nicht über 100 steigt.

Auch die GEW hat die Probleme im Blick. «Jedes Kind, das verloren
geht, ist eines zu viel», sagte die Co-Vorsitzende der GEW Hessen,
Birgit Koch. Um gegenzusteuern, sei generell eine stärkere Förderung
durch zusätzliches Personal nötig. Dafür könnten Mittel aus dem f
ür
die Schulen vorgesehenen Topf des Corona-Sondervermögens aufgewendet
werden. Sinnvoll wäre aus Kochs Sicht, beispielsweise
Lehramtsstudenten oder Studierende der Sozialen Arbeit einzubinden,
die coronabedingt derzeit keine Schul- und sonstigen Praktika
ableisten könnten. Auch sie könnten von einer solchen Lösung
profitieren, weil sie praktische Erfahrungen sammeln und etwas Geld
verdienen könnten. «Damit würde man mehrere Fliegen mit einer Klappe

schlagen», sagte Koch.