Ärzte beklagen «Impfstau» in den Ländern - Streit über Impfvorran g Von Basil Wegener und Sascha Meyer, dpa

Wochenlang war das Hauptproblem der mangelnde Impfstoff - jetzt
liegen Impfdosen in großen Menge auf Halde. Nun stellt sich die
ethisch heikle Frage: Wer soll als nächstes geimpft werden?

Berlin (dpa) - Angesichts großer Mengen zunächst ungenutzten
Corona-Impfstoffs in den Ländern wird hitzig debattiert, wer damit
zuerst geimpft werden soll. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
(CDU) dringt auf höheres Tempo beim Impfen in den Impfzentren.
Deutschlands Kassenärzte mahnten die Bundesländer, den Impfstoff des
Herstellers Astrazeneca nicht unverimpft liegenzulassen.

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts wurden bis Dienstag nur rund
239 000 Dosen des Herstellers Astrazeneca gespritzt. Dem
Gesundheitsministerium zufolge sind aber bereits mehr als 1,4
Millionen Astrazeneca-Dosen an die 16 Bundesländer geliefert.

Die Lage ist in den Länder unterschiedlich. Nach Baden-Württemberg
beispielsweise wurden diesen Daten zufolge bisher gut 194 000
Astrazeneca-Dosen geliefert und 12 000 verimpft. Voraussichtlich am
Samstag sollen aber bereits mehr als 86 000 neue Dosen ankommen.
Bundesweit ist dann eine Lieferung von mehr als 650 000
Astrazeneca-Dosen geplant.

Spahn sagte am Mittwoch im ZDF, die Länder hätten Kapazitäten von bis

zu 300 000 Impfungen am Tag gemeldet, im Moment fänden bis zu 150 000
am Tag statt. Deswegen gehe er davon aus, «dass das jetzt auch
deutlich hochgefahren wird». Die Länder hätten nachvollziehbarerweise

beim Bund genügend Dosen angemahnt. «Jetzt ist Impfstoff da.» Der
Astrazeneca-Impfstoff hat eine etwas geringere Wirksamkeit als jener
von Biontech/Pfizer und Moderna, aber mit 70 bis 80 Prozent
Wirksamkeit nach Expertenmeinung immer noch eine gute.

Es gebe einen «Impfstau» in den Impfzentren der Länder, kritisierte
der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas
Gassen. KBV-Vizechef Stephan Hofmeister mahnte: «Unverimpft sollte
der Impfstoff nicht herumliegen. Er muss verimpft werden.»

Gassen sagte: «Der Impfstoff, der da ist, den kriegen die Impfzentren
nicht an den Mann und an die Frau. Das zeigt, dass so eine aufwendige
Organisation immer mit einer gewissen Trägheit operiert.» Immer
wieder gab es Berichte, dass Pflegekräfte den Impfstoff ablehnten. 

Wer den Impfstoff vorrangig bekommt, liege in der Hand der Politik,
betonte die KBV. Es sei Sache der Länder, festzulegen, wer die
Hunderttausende freie Dosen Astrazeneca erhalte. Hofmeister
kritisierte, dass die Länder die Impfkampagne nun aber sehr
unterschiedlich für einzelne Gruppen öffneten. «Die einen wollen
Lehrer impfen, die anderen Polizisten.» Hofmeister: «Es ist ein
bisschen schwierig, wenn es in Berlin anders gemacht wird als in
Bayern.» 

Es gebe einzelne Anstrengungen, dass bereits jetzt Arztpraxen
einspringen - zum Beispiel onkologische oder Dialysepraxen. Die KBV
forderte, dass die Politik dies in breiter Front ermöglicht. «Warum
das nicht möglich sein soll, das erschließt sich uns nicht», sagte

Hofmeister.

Bei den Corona-Impfungen in Deutschland soll nun schrittweise die
Prioritätengruppe zwei zum Zug kommen. In Niedersachsen gilt
beispielsweise seit Dienstag ein entsprechender Erlass. Neu
aufgenommen in diese Gruppe werden durch eine deutschlandweite
Änderung der Impfverordnung, die an diesem Mittwoch in Kraft treten
sollte, «Personen, die in Kinderbetreuungseinrichtungen, in der
Kindertagespflege und an Grundschulen tätig sind». Auch Beschäftigte

in Kinder- und Jugendhilfe sollen ab jetzt geimpft werden können.

Bereits bisher war vorgesehen, dass über 70-Jährige in Gruppe zwei
geimpft werden - und Menschen mit Demenz oder geistiger Behinderung,
nicht ruhendem Krebs, chronischen Lungen-, Leber- oder
Nierenkrankheiten, schwerer Diabetes, Adipositas sowie
Kontaktpersonen von Schwangeren und Pflegebedürftigen zuhause. Auch
Polizisten, Angehörige bestimmter Gesundheitsberufe sowie Menschen,
die in Obdachlosen- und Asylbewerberunterkünften untergebracht sind,
zählen zur Gruppe zwei. 

Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens,
warnte, es dürfe nicht passieren, dass schwer kranke Risikopatienten
leer ausgingen, weil ganze Berufsgruppen mit starker Lobby vorgezogen
würden. «Hier sollte es unbedingt in allen Impfzentren Listen geben,
die festlegen, wer an die Reihe kommt, wenn Dosen übrig bleiben»,
sagte Mertens der Funke Mediengruppe. Dabei könne man auch «geeignete
Kandidaten aus nachfolgenden Prioritätsgruppen» vorziehen.

Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) will mit einem Teil
der übrig gebliebenen Astrazeneca-Dosen die rund 3000 Obdachlosen in
den Notunterkünften gegen Corona impfen. «Wir könnten und sollten
allen Obdachlosen in Notunterkünften jetzt so schnell wie möglich ein
Impfangebot machen», sagte sie der Funke Mediengruppe. Andere
Bundesländer sollten dem Beispiel folgen.

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch,
sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Warum ignoriert die Politik
weiterhin, dass es Millionen pflegende Angehörige und Angehörige von
Schwangeren gibt, denen zunächst nach Verordnung ein Angebot zu
machen ist?» Spahn müsse unverzüglich die Pflegekassen auffordern,

den Pflegebedürftigen daheim Berechtigungsscheine für Impfungen ihrer
Kontaktpersonen zuzuschicken. 

Der Berliner Virologe Christian Drosten stellte auf Twitter fest:
«Die Prioritätsgruppen brauchen Priorität. Wir brauchen aber auch
eine schnelle Versorgung der sofort Impfbereiten.»  

Vor Gruppe zwei waren - und sind in weiten Teilen noch - die
Hochbetagten über 80, Pflegebedürftige und Pflegekräfte in
Heimen, Beschäftigte ambulanter Pflegedienste, auf Intensivstationen
und Rettungssanitäter an der Reihe. Spahn erläuterte, dass allen
Bewohnern in Pflegeheimen mittlerweile ein Impfangebot habe gemacht
werden können. Es sei auch eine positive Wirkung zu sehen. «Das
Infektionsgeschehen bei den über 80-Jährigen geht spürbar zurück.
»

Die KBV forderte die Politik auf, alles Nötige für den breiten Start
der Impfungen in Deutschlands 75 0000 Haus- und Facharztpraxen, die
impfen können, in die Wege zu leiten. Gassen rechnet mit einem
möglichen Start dafür in der ersten Hälfte des zweiten Quartals.
Voraussetzung für das flächendeckende Impfen in den Praxen sei, dass

die Impfstoffe, Spritzen und anderes Material zuverlässig geliefert
werde. Dann sei das «kein Hexenwerk, das ist Tagesgeschäft». Auch d
er
Impfstoff von Biontech und Pfizer, der im Grundsatz stark gekühlt
werden muss, könne in den Praxen verimpft werden; er sei 120 Stunden
bei Kühlschranktemparaturen lagerfähig.

Die Impfkampagne kann nach von der KBV präsentierten Zahlen ohne
Arztpraxen nicht schnell stark beschleunigt werden. In den 433
Impfzentren konnten demnach zuletzt nur 140 000 Impfungen pro Tag
vorgenommen werden. Seit Beginn der Impfkampagne Ende Dezember 2020
wurden bislang insgesamt 7,5 Millionen Dosen ausgeliefert, von denen
rund 5,7 Millionen verimpft wurden. Die Länder schätzen laut KBV,
dass sie im März über 550 000 Impfungen pro Tag leisten können. Wen
n
50 000 Arztpraxen täglich jeweils 20 Impfstoffdosen verabreichten,
könnten alleine dadurch laut KBV aber schon bis zu fünf Millionen
Impfungen in der Woche durchgeführt werden.

Gassen mahnte die Politik, keine unnötige Bürokratie für die Impfung

in den Praxen vorzusehen. «Wenn wir den Verwaltungs-Oscar gewinnen
wollen», dann nicht nur deswegen, weil EU-weit anfangs zu wenig
Impfstoff bestellt worden sei. «Dann kriegen wir es hin, diese
Impfkampagne auch noch zu vedaddeln.» Hofmeister sagte: «Wenn die
Praxen flächendeckend impfen, dann gibt es das Einladungssystem nicht
mehr.» Aber: «Es geht auch dann immer nur der Reihe nach.» 

Nach neuen Modellrechnungen der KBV kann es gelingen, am 1. August
einen Impfvollschutz der gesamten Bevölkerung zu leisten. Für den
Pandemieverlauf ist die Prioritätensetzung bis dahin nicht das
Entscheidende. Entscheidend sei eine ausreichende «Menge Mensch
geimpft zu haben», sagte Gassen.