Experten üben Kritik am Corona-Stufenplan

Stufenplan ja, aber nicht so: Wissenschaftler, Unternehmer,
Schulleiter und Sozialverbände sind mit dem Entwurf der
Landesregierung bisher nicht zufrieden.

Hannover (dpa/lni) - Der Corona-Stufenplan der niedersächsischen
Landesregierung muss nach Ansicht einer Reihe von Experten
nachgebessert werden. In einer von Grünen und FDP organisierten
Anhörung war der Tenor am Dienstag eindeutig: Die Absicht, mit dem
Plan mehr Verlässlichkeit zu schaffen, sei gut. Doch an den Kriterien
für die Lockerungen und der praktischen Umsetzung gab es Kritik.

WISSENSCHAFT: Der Epidemiologe Gérard Krause kritisierte die
Fokussierung auf den Sieben-Tage-Wert bei den Corona-Infektionen. Die
sogenannte Inzidenz sei «kein stabiler Indikator», der die Schwere
der Pandemie abbildet, sagte der Forscher des Braunschweiger
Helmholtz-Zentrums. So sei der Wert der Neuinfektionen pro 100 000
Einwohner abhängig von der Zahl der durchgeführten Tests. Außerdem
fehlten Daten über die Ausbreitung des Virus in bestimmten Alters-
oder Berufsgruppen, etwa bei den Lehrern. Darüber hinaus müssten die
Krankheitslast, etwa schwere Verläufe, und die Eindämmbarkeit, etwa
die Länge von Infektionsketten, stärker berücksichtigt werden.

Die Physikerin Viola Priesemann, die in Göttingen eine
Max-Planck-Forschungsgruppe leitet, warnte, dass eine voreilige
Lockerung des Lockdowns zu anhaltend hohen Fallzahlen und damit zu
andauernden Einschränkungen führen könne. Viele Lockerungen auf einen

Schlag erschwerten es zudem nachzuvollziehen, welche Maßnahme welchen
Effekt hat. Priesemann warb daher für ein Plädoyer der Politik für
niedrige Fallzahlen. «Einen «Lockdown light forever» hatten wir in
den letzten Monaten schon zur Genüge», sagte sie.

WIRTSCHAFT: Nach Einschätzung der Industrie- und Handelskammer
Niedersachsen (IHKN) werden die wirtschaftlichen Folgen der Krise
immer dramatischer. Viele Betriebe hätten mittlerweile «ausgeprägte
Existenzsorgen», sagte IHKN-Hauptgeschäftsführer Hendrik Schmitt.
Mehr als 700 000 Beschäftigte im Land seien seit Monaten im Lockdown.
«Wir schalten ganze Bereiche der Wirtschaft wissenschaftlich nicht
nachvollziehbar seit Monaten ab», kritisierte Schmitt. Für die
Betreiber von Hotels und Restaurants etwa seien kurzfristige
Schließungen verheerend. «So treiben wir die Unternehmerinnen und
Unternehmer in die Verzweiflung und in den Ruin», sagte Schmitt.

«Die Nerven liegen blank», erklärte auch Dehoga-Hauptgeschäftsfüh
rer
Rainer Balke. Viele Hoteliers und Gastronomen hätten ihre Rücklagen
nach einem Umsatzeinbruch von fast 40 Prozent aufgebraucht.

Der Bezirkschef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Mehrdad
Payandeh, forderte mit Blick auf Lockerungen, dass die Arbeitgeber
ihren Mitarbeitern Impfungen und Tests organisieren und bezahlen
sollten. Die Perspektive für Öffnungen an sich sei wichtig, weil
Beschäftigte mit geringen Einkommen besonders von den Maßnahmen
betroffen seien. Die Armutsgefährdung sei bereits gestiegen.

SCHULEN: Der Schulleitungsverband erklärte, er wolle stärker in die
Entscheidungen zu den Corona-Maßnahmen an den Schulen einbezogen
werden. «Wir kennen unsere Schulen am besten», sagte Verbandschefin
Andrea Kunkel. Die Hilfsgelder müssten außerdem schneller und
unbürokratischer bereitgestellt werden als bisher. Der Schulleiter
René Mounajed drang auch auf einheitliche und klare Vorgaben für die
Abschlussprüfungen und eine schnelle Impfung der Lehrer.

SOZIALES: Die Rechte der Kinder kommen nach Ansicht des
Kinderschutzbunds in der Krise bisher viel zu kurz. Konkret
kritisierte der Landeschef des Vereins, Johannes Schmidt, die
Kontaktregeln, bei denen bisher nur für Kinder bis sechs Jahre eine
Ausnahme gilt. Das sei nicht alltagstauglich. Zumindest auf
Geschwisterkinder müsse die Ausnahme ausgeweitet werden. Schmidt
warnte, die Isolation werde für viele Kinder schwere gesundheitliche
Folgen haben und drohe Familien zu zerstören. «Einsamkeit,
Zukunftsängsten, Antriebsarmut, Aggression und Gewalt sind sie
schutzlos ausgeliefert», sagte er.

Carsten Adenäuer vom Bundesverband private Anbieter sozialer Dienste
monierte, dass die Pflege und die Behindertenhilfe im Stufenplan der
Regierung bisher noch gar nicht berücksichtigt worden seien.

VERKEHR: Eine Staffelung des Unterrichtsbeginns an den Schulen könnte
helfen, den Schülerverkehr deutlich zu entzerren, sagte der
Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands Verkehrsgewerbe (GVN),
Benjamin Sokolovic. Die Kapazitäten könnten so verdoppelt werden.
Sokolovic erinnerte zudem daran, dass das Land 30 Millionen Euro für
den Einsatz weiterer Busse bereitgestellt habe. Die Kommunen machten
davon bisher aber kaum Gebrauch.

HINTERGRUND: Ministerpräsident Stephan Weil hatte den Stufenplan
Anfang Februar vorgelegt und als Diskussionsentwurf bezeichnet. «Das
ist ein Plan, der beschreibt, wie es sein kann, wenn es besser wird
und wenn es schlechter wird», sagte der SPD-Politiker. Eine
parlamentarische Anhörung von Experten lehnten SPD und CDU aber ab.