Mobilitätsforscher: 35er-Inzidenz vorerst unrealistisch

Noch vor einigen Wochen schien die Zielmarke für Lockerungen von 35
Infektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen erreichbar.
Eine um sich greifende neue Corona-Variante lässt Prognosen aber
jetzt anders ausfallen.

Berlin (dpa) - Mit der offenbar raschen Ausbreitung einer
ansteckenderen Corona-Mutante in Deutschland rückt die Zielmarke von
35 bei der Sieben-Tage-Inzidenz aus Expertensicht in die Ferne. Ohne
zusätzliche Maßnahmen erscheine das Erreichen dieses Werts «bis auf
weiteres unrealistisch», erklärte der Leiter des Fachgebiets
Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik an der TU Berlin, Kai
Nagel, der Deutschen Presse-Agentur. Seine Gruppe modelliert das
Infektionsgeschehen in Berlin unter anderem mit anonymisierten
Mobilfunkdaten. Nagel zufolge sind die Ergebnisse übertragbar auf die
Lage bundesweit.

Mit Sieben-Tage-Inzidenz sind die bestätigten Corona-Fälle pro
100 000 Einwohner binnen einer Woche gemeint. Bund und Länder hatten
regionale Öffnungsschritte ab einem Wert von 35 ab 7. März
angekündigt.

Die vor Weihnachten zunächst in Großbritannien entdeckte Mutante
B.1.1.7 breitet sich nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) von
vergangener Woche auch hierzulande aus: Binnen zwei Wochen wuchs der
Anteil in Stichproben von knapp 6 auf 22 Prozent. Berücksichtige man
die deutlich erhöhte Ansteckungswahrscheinlichkeit, sei die Situation
laut Modell «deutlich kritischer als bisher von uns vorhergesagt»,
erläuterte Nagel. «Bei reiner Beibehaltung der jetzigen Maßnahmen
bekommen wir dann laut Modell eine dritte Welle; jede Art von
Öffnungen vergrößert diese Welle.»

Nagel betonte: «Wir können dagegenhalten, indem Kontakte in
Innenräumen ohne Schutzmaßnahmen generell vermieden werden.» Zu
solchen zu vermeidenden Kontakten gehörten neben Schulen auch
Mehrpersonenbüros und gegenseitige Besuche. Mögliche Schutzmaßnahmen

seien Masken, Schnelltests, Impfungen und eine Verlagerung von
Veranstaltungen nach draußen.

Über Simulationsergebnisse zu den Effekten von Schnelltests sagte
Nagel am Donnerstag: «Ein breiter Einsatz in der Bevölkerung mit zwei
Schnelltests für jeden pro Woche würde uns ersparen, den Lockdown
restriktiver zu machen.» Zu erwarten sei dann eine sehr deutliche,
positive Wirkung auf die Fallzahlen.

Es reiche dabei aus, wenn Schnelltests ansteckende Menschen mit hoher
Wahrscheinlichkeit identifizierten; dass wirklich jeder Infizierte
aufgespürt wird, sei nicht nötig, schilderte Nagel. Schnelltests sind
nicht ganz so genau wie Labortests, sie können falsch-negative und
falsch-positive Ergebnisse liefern. Sinnvoll erscheine der Einsatz
der Tests etwa vor bestimmten Aktivitäten wie Besuchen in der
Freizeit, sagte der TU-Wissenschaftler. Laut dem Modell passierten
nämlich immer noch viele Ansteckungen im Privaten.

In die Modelle der TU-Wissenschaftler fließen auch Kennzahlen zum
Virus und Aspekte wie die Temperatur und die davon abhängigen
Freizeitaktivitäten ein. Zuletzt sei in den Mobilitätsdaten kein
verändertes Verhalten der Menschen zu sehen gewesen, schilderte Nagel
- mit Ausnahme der Wochenenden, an denen bei besserem Wetter mehr
Leute unterwegs seien. Solange diese zusätzlichen Aktivitäten
allerdings im Freien stattfänden, «entstehen daraus laut unseren
Modellen aber keine relevanten zusätzlichen Infektionen», so Nagel.