RKI warnt vor Corona-Wendepunkt - Mehr Lockerungen in Gefahr Von Ulrike von Leszczynski, Marco Hadem und Sascha Meyer, dpa

Ansteckendere Varianten des Coronavirus machen das Eindämmen der
Pandemie schwerer als befürchtet - Experten schwant schon ein Ende
der jüngsten Entspannung. Was heißt das für ersehnte Lockerungen? Und

was bedeutet das für Ostern?

Berlin (dpa) - Nach monatelangem Corona-Lockdown geraten Hoffnungen
auf schnelle weitergehende Öffnungen zusehends in Gefahr. Das Robert
Koch-Institut (RKI) warnte am Freitag, dass der seit einigen Wochen
erreichte Rückgang der Neuinfektionen auch angesichts ansteckenderer
Virus-Varianten wohl ins Stocken komme. «Wir stehen möglicherweise
erneut an einem Wendepunkt», sagte Präsident Lothar Wieler in Berlin.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mahnte erneut zu Vorsicht
bei weiteren Lockerungsschritten, bei denen es keinen Automatismus
geben könne. Die Impfungen sollen nach Kritik am schleppenden Start
weiter Fahrt aufnehmen - auch mit einem neuen Regierungsbeauftragten.

Spahn sagte: «Das Virus gibt nicht einfach auf.» Das Bedürfnis nach
einem Ende des Lockdowns sei greifbar. Bei Öffnungen gelte es aber,
behutsam vorzugehen, um Erreichtes nicht zu gefährden. Wieler sagte,
die Fallzahlen stagnierten, in vielen Bundesländern sei ein Plateau
entstanden. Doch das sei zu hoch. «Jede unbedachte Lockerung
beschleunigt das Virus und wirft uns zurück. Dann stehen wir in ein
paar Wochen genau wieder an dem Punkt, wo wir Weihnachten waren.» Das
Virus habe einen Schub («Boost») erhalten, Schutzmaßnahmen wirkten
aber auch gegen neue Varianten. Es gebe keinen Grund zur Entmutigung.

Bundesweit lag die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in
sieben Tagen nun laut RKI bei 56,8 - und damit geringfügig niedriger
als am Vortag (57,1). Schon in den Tagen zuvor hatte es keinen
deutlichen Rückgang dieser Sieben-Tage-Inzidenz mehr gegeben. Der
Höchststand war kurz vor Weihnachten mit knapp 200. Bund und Länder
streben 50 an, weitergehende Öffnungen sollen dann bei stabil weniger
als 35 möglich sein. Es gibt beim Niveau aber nach wie vor regionale
Unterschiede - von 41 in Baden-Württemberg bis 117 in Thüringen.

Wieler hält niedrige Inzidenzen regional für machbar. «Man kann diese

Zahl von 35 erreichen.» Dafür gebe es schon Beispiele in Landkreisen.
Auch Spahn verwies auf regionale Konzepte für Lockerungen - oder eben
nötige Schutzauflagen. Dabei löse bereits der Beginn von Schulen und
Kitas in mehreren Ländern in der kommenden Woche «Mobilität in sehr
großem Umfang» aus - mit Millionen Kindern, dazu Eltern, Lehrkräften

und Erzieherinnen. Daher sei zu schauen, wie sich dies nach einer
Woche oder zehn Tagen im Infektionsgeschehen niederschlage. So gern
man ein Vorgehen nach dem Motto «Schritt eins, eine Woche später
Schritt zwei» hätte, gehe ein solcher Automatismus aber nicht.

Stagnierende Fallzahlen beobachten auch Wissenschaftler im
Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung.
System-Immunologe Sebastian Binder hält es für möglich, dass sich
eine bundesweite 50er-Inzidenz im Moment gar nicht erreichen lässt.
«Diese Gefahr ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Aktuell
sehen wir mindestens ein Plateau in der Entwicklung der Fallzahlen»,
sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Ein kausaler Zusammenhang mit
der Virus-Variante B 1.1.7. lasse sich dabei noch nicht sicher
nachweisen. Er liege aber nahe. «Wir müssen damit rechnen, dass die
neue Variante sich möglicherweise bereits wieder exponentiell
ausbreitet, ähnlich, wie es die alte Variante im Oktober 2020 tat.»

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sprach von einer
Gratwanderung zwischen Sorgen und Wünschen. Gebraucht werde kein
«starrer Stufenplan, aber eine Öffnungsmatrix, die ein breites
Instrumentarium bietet, um entsprechend zu reagieren». Hierzu zähle
ausdrücklich die Option, bei Verschlechterungen schnell zu reagieren.
«Ostern ist noch völlig offen. Der Osterurlaub entscheidet sich in
den nächsten drei Wochen», sagte Söder nach einer Videokonferenz mit

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und 96 bayerischen Kommunalpolitikern.
In Nordrhein-Westfalen sollen an diesem Montag mehrere Lockerungen
etwa bei bisherigen Einschränkungen des Freizeitsports kommen.

In die Impfungen komme deutlich mehr Geschwindigkeit hinein, sicherte
Spahn zu. Bisher seien fast fünf Millionen Dosen verabreicht worden,
bis Ende nächster Woche dürften insgesamt zehn Millionen Dosen an die
Bundesländer ausgeliefert worden sein. Daher seien nun Vorbereitungen
nötig, die Kapazitäten der regionalen Impfzentren in den Ländern von

derzeit bis zu 150 000 Impfungen am Tag in wenigen Wochen mindestens
zu verdoppeln. In den Blick kommen soll dann bald auch ein
Einbeziehen der normalen Arztpraxen. Spahn stellte aber klar, dass
dafür noch kein genaues Datum wie etwa der 1. April zu nennen sei.

Um einen stärkeren Ausbau der Impfstoffproduktion in Deutschland zu
unterstützen, setzt die Bundesregierung einen Sonderbeauftragten ein.
Die beim Wirtschaftsministerium angesiedelte Koordinierungsaufgabe
soll der Chef der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, Christoph
Krupp, übernehmen, wie Spahn bestätigte. Laut Finanzministerium soll
Krupp befristet teils dafür freigestellt werden, eine Arbeitsgruppe
zu leiten. Zuerst berichtete das Magazin «Der Spiegel» darüber.