Geiselnahme oder Kurzschlussreaktion? Plädoyers im Oppenau-Prozess Von Violetta Heise, dpa

Ist der «Waldläufer von Oppenau», der mit gestohlenen Polizeiwaffen
in den Schwarzwald flüchtete, ein Geiselnehmer? Oder ist er
«unverhofft in die Situation geschlittert»? Verteidigung und Anklage
werten die Taten völlig unterschiedlich.

Offenburg (dpa) - Hunderte Polizisten durchkämmen den Schwarzwald,
Hubschrauber kreisen, Hundestaffeln sind unterwegs: Wer die Bilder
des massiven Einsatzes gegen den «Waldläufer von Oppenau» noch im
Kopf hat, der mag über das Strafmaß etwas erstaunt sein, das nun in
seinem Fall im Raum steht. Die Staatsanwaltschaft hat gegen Yves R.
vor dem Landgericht Offenburg am Dienstag drei Jahre und neun Monate
Haft gefordert - wegen Geiselnahme im minderschweren Fall und anderer
Delikte. Entscheidend bei der Bewertung des Falls sei nicht die
medienwirksame Fahndung gewesen, sagte Staatsanwältin Raffaela Sinz.
«Entscheidend ist, was sich tatsächlich zugetragen hat.»

Und darüber herrschte vor Gericht weitgehend Einigkeit, weil R. ein
Geständnis abgelegt hat, das sich in den großen Linien mit
den Zeugenaussagen deckt. Am Freitag soll das Urteil gegen den
32-Jährigen fallen. Neben Geiselnahme werden ihm auch tätliche
Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte und Verstöße gegen das
Waffengesetz vorgeworfen.

Rückblick: Am 12. Juli 2020 kontrollieren vier Polizisten eine
Gartenhütte an einem waldigen Steilhang oberhalb des
Schwarzwald-Städtchens Oppenau. Der Besitzer des Häuschens hatte dort
den schlafenden R. gesehen - und diverse Waffen. Die Durchsuchung
gerät außer Kontrolle: R. richtet eine Schreckschusswaffe, die
aussieht wie eine echte Pistole, auf einen der Beamten und erreicht
so, dass alle Polizisten ihre Waffen ablegen und sich entfernen. R.
selbst flieht mit den Pistolen in den Wald. Erst fünf Tage später
wird er in einem Gebüsch nahe Oppenau gestellt, wobei er einen
SEK-Beamten mit einem Beil am Fuß verletzt.

Es sei eine eher untypische Geiselnahme gewesen, sagte Staatsanwältin
Sinz zur Erklärung, warum es sich aus ihrer Sicht um einen
minderschweren Fall handele. Für den Angeklagten spreche zudem, dass
er früh ein Geständnis abgelegt und sich im Verfahren entschuldigt
habe. Während der Kontrolle in der Hütte habe sich der vorbestrafte
R. absolut überfordert gefühlt, er habe eine erneute Haft gefürchtet.

Statt planvoll habe er in einer Kurzschlussreaktion gehandelt. Gegen
ihn sprächen aber unter anderem die vielen Vorstrafen.

Gar keine Geiselnahme sieht die Verteidigung von Yves R. Der
Tatbestand sei nicht erfüllt, sagte Verteidigerin Melanie Mast. R.
habe nie vorgehabt, sich der Beamten zu ermächtigen. «Was sollte er
auch mit den Beamten im Wald?» Ihr Mandant sei «unverhofft in die
Situation geschlittert». Mast und ihr Co-Verteidiger Yorck Fratzky
plädierten für eine Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren auf
Bewährung. Die Prognose für R. sei günstig, auch weil er während
seiner U-Haft über Briefe eine neue Lebensgefährtin gefunden habe.

Ein Gutachter hatte dem Beschuldigten am Dienstag zuvor eine
zumindest teilweise verminderte Schuldfähigkeit attestiert. Yves R.
leide an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung, sagte der
Psychiater Dr. Stephan Bork. Für die Festnahmesituation, als R. einen
Beamten mit einem Beil verletzte, stellte der Gutachter eine
verminderte Schuldfähigkeit fest, nicht jedoch für die vorangegangene
Entwaffnung der Polizisten.

Vor seiner Festnahme habe sich der hungrige, durstige und
übernächtigte Mann in einer affektiven Ausnahmesituation befunden -
und in einer für ihn ausweglosen Pattsituation. Sein Verständnis von
Ehre habe es ihm unmöglich gemacht aufzugeben. Sein Lebenswille sei
jedoch so stark gewesen, dass er keine der gestohlenen Waffen habe
ziehen wollen. Dann habe ihn ein Taser getroffen, woraufhin er mit
einem Beil in Richtung des Schmerzreizes geschlagen und den
SEK-Beamten getroffen habe. Keine affektive Ausnahmesituation habe
jedoch für R. geherrscht, als er in der Hütte von den Polizisten
kontrolliert worden sei.