Piksen im Eiltempo: Das britische Impfprogramm und seine Tücken Von Larissa Schwedes, dpa

Fast 1000 Corona-Impfungen pro Minute meldete Großbritannien in einer
Rekordstunde Anfang Februar. Neidisch richten sich derzeit die Augen
aus Europa auf die Insel, wenn es ums Impfen geht. Doch die
ambitionierte Offensive der Briten ist nicht ohne Schattenseiten.

London (dpa) - Mehr als jeder vierte Erwachsene in Großbritannien hat
den ersten schützenden Piks bereits bekommen. Rund 15 Millionen
Bürger, und damit die am stärksten gefährdeten Gruppen, sind bis
Mitte Februar mit einer ersten Dosis geimpft worden - so wie von
Premier Boris Johnson zu Beginn des Jahres als ambitioniertes
Etappenziel ausgegeben. «Das ist ein einzigartiger, nationaler
Erfolg», jubelte der Premier am Montag. Es ist der erste echte Erfolg
seiner Regierung in der Corona-Pandemie - nach einer beispiellosen
Serie von Pleiten und Fehlentscheidungen.

Dank schnellerer Zulassung konnte Großbritannien schon am 8. Dezember
mit dem Impfen beginnen - und über die ersten Wochen massiv Tempo
aufbauen. Impfzentren eröffneten im Wochentakt, auch Hausärzte und
Apotheken durften schnell mithelfen. Das Impfen wurde zum Event, zum
Beispiel im Stadion oder in der berühmten Kathedrale in Salisbury, wo
Senioren zu den Klängen der Orgel immunisiert wurden.

Erst als rund um den Jahreswechsel auch die EU-Länder mit dem Impfen
starteten und es auf dem Kontinent hier und da hakte, wurde klar:
Viele Zahnrädchen des britischen Impfprogramms scheinen recht lautlos
zu funktionieren, immer wieder verkündete die Regierung neue
Tagesrekorde.

Konservative Brexiteers brauchten nicht lang, um dies als frühen
Erfolg des EU-Austritts zu verkaufen: Endlich frei von den lästigen,
langsamen Mühlen der EU - so das Narrativ. Doch Kate Bingham, die
Chefin der britischen Impf-Taskforce, hält wenig von dieser
Interpretation. Ihre langjährigen Kontakte in der Pharmabranche
hätten es ihr ermöglicht, Impfstoff-Hersteller direkt anzurufen und
frühzeitig umfangreiche Verträge abzuschließen, erzählte sie vor
kurzem der «Welt am Sonntag».

Sollten weitere aussichtsreiche Impfstoffkandidaten wie Johnson &
Johnson oder Novavax auch zugelassen werden, hat Großbritannien genug
Impfdosen bestellt, um die eigene Bevölkerung gleich dreimal zu
impfen. Das sind Zahlen, von denen man in der EU, wo
Kommissionschefin Ursula von der Leyen mittlerweile Fehler bei der
Beschaffung eingeräumt hat, derzeit nur träumen kann. Ganz zu
schweigen von ärmeren Ländern. «Die Regierung hat gepokert - und das

hat sich in diesem Fall ausgezahlt», sagte der Mediziner Azeem Majeed
vom Imperial College London der Deutschen Presse-Agentur.

Die WHO rief die Briten bereits dazu auf, Impfdosen abzugeben, sobald
die Älteren und Gefährdeten im Land geimpft seien. Doch davon hält
die Johnson-Regierung wenig. Sie bekennt sich zwar zur Unterstützung
ärmerer Länder, etwa in der Covax-Initiative, ist aber entschlossen,
die eigene Bevölkerung schnellstmöglich weiter durchzuimpfen.

Einem Bericht von Sky News zufolge hätten Minister, die nicht müde
werden, den Impfstoff der Uni Oxford und des Pharmakonzerns
Astrazeneca als «großen britischen Erfolg» zu feiern, auf dessen
Fläschchen am liebsten den Union Jack gedruckt, die britische
Nationalflagge. «Das als Produkt eines einzelnen Landes darzustellen,
ist Nationalismus und nicht unbedingt wahr», kritisierte der
englische Hausarzt Paul Williams im Gespräch mit dem Sender. Es führe
sogar vereinzelt dazu, dass Menschen eine Biontech-Impfung ablehnten,
weil sie auf den «englischen Impfstoff» warten wollten.

Seinen Höhepunkt erreichte der Missmut über die «Britain
First»-Strategie, als Streit mit der EU entbrannte, deren
Mitgliedstaaten beim Astrazeneca-Impfstoff bislang das Nachsehen
haben. Der Konzern liefert im ersten Quartal des Jahres deutlich
weniger Dosen an den Kontinent als zunächst erwartet. Berichten
zufolge enthält Großbritanniens Vertrag mit Astrazeneca recht klare
Vereinbarungen darüber, dass der im Land hergestellte Impfstoff auch
für das Land reserviert bleibt. Konzernchef Pascal Soriot sagte dazu,
die EU habe eben erst deutlich später ihre Impfdosen bestellt.

Impf-Experte Majeed rechnet damit, dass sich schon bald die
Unterschiede zwischen Großbritannien und den europäischen Ländern
ausgleichen werden - nämlich, wenn mehr Impfstoff zur Verfügung steht
und Großbritannien die zweiten Dosen verteilen muss.

Doch auch epidemiologisch betrachtet ist die britische Offensive
nicht ohne Risiko: Um schneller mehr Menschen zu immunisieren, setzt
das Land beim Abstand zwischen der ersten und zweiten Impfdosis, die
für den vollen Schutz nötig ist, auf einen Abstand von zwölf Wochen.

Während das bei dem Astrazeneca-Impfstoff mittlerweile als
wissenschaftlich abgesichert gilt, ist das bei dem ebenfalls
eingesetzten Mittel von Biontech und Pfizer anders. Hier empfiehlt
der Hersteller einen Abstand von drei bis vier Wochen.

Dass es trotzdem gut geht, ist mehr Hoffnung als Wissenschaft. Es
bestehe das Risiko, dass sich in der Zwischenzeit keine ausreichende
Immunität entwickle und dass leichter neue Mutationen entstünden,
sagte Majeed vom Imperial College London. Wäre es nach ihm gegangen,
hätte sein Land sich an die Empfehlung von Biontech gehalten.

Außerdem legen die Briten - anders als weitgehend in Deutschland
üblich - nicht direkt beim ersten Piks die zweite Dosis für die
entsprechende Person zurück, sondern vertrauen darauf, dass die
Lieferketten stabil bleiben und später ausreichend Dosen da sind. Ob
sich das bewahrheiten wird, bleibt abzuwarten. Aus Schottland hieß es
vor einigen Tagen, man müsse das Tempo des Impfens womöglich langsam
zurückschrauben - weil beim Biontech/Pfizer-Mittel zumindest
vorübergehend der Nachschub knapp wird.

«Das ist kein Moment zum Entspannen», betonte auch Johnson. «Die
Gefahr bleibt sehr real.» Seine Ziele bleiben dennoch
ambitioniert: Bis Ende April sollen alle über 50-jährigen Briten den

rettenden ersten Piks erhalten.