Merkels Kampf gegen versteckte Corona-Mutanten - Perspektive auf Zeit Von Marco Hadem und Jörg Blank, dpa

Die Infektionszahlen gehen endlich nach unten. In den vergangenen
Wochen hat sich die tiefrote Corona-Deutschlandkarte endlich wieder
aufgehellt. Genau darin liegt nun aber eine große Gefahr.

Berlin (dpa) - Es ist ein Spagat, der Angela Merkel gelingen muss.
Einerseits wächst mit den endlich sinkenden Infektionszahlen in
Bevölkerung und Wirtschaft die Ungeduld: Wann kann das Land nach
monatelangem Lockdown wieder hochfahren? Wann öffnen Geschäfte und
Restaurants - und ist so eine Massenpleite noch zu verhindern? Auf
der anderen Seite, so glaubt die Kanzlerin, lauern die aggressiven
und heimtückischen Mutationen des ohnehin gefährlichen Coronavirus.

Sieben Monate vor der Bundestagswahl steht ausgerechnet die eher als
kühl und den Fakten zugeneigt geltende Kanzlerin in der Corona-Krise
vor der schweren Aufgabe, den Deutschen einen weiteren «Kraftakt»,
wie sie es selbst nennt, abzuverlangen: die erneute Verlängerung des
Lockdowns mit vielen Unannehmlichkeiten bis mindestens Anfang März.

Das ist zwei Monate nach Beginn des harten Lockdowns nichts Neues.
Neu ist aber, dass Merkel bei der Konferenz mit den
Ministerpräsidenten am Mittwoch zur Begründung nicht auf gesicherte
Zahlen verweisen kann. Die vielen Infektionen in den Grenzgebieten
und die Erfahrungen anderer Länder mit den aggressiven Virus-Mutanten
dürften nicht jeden überzeugen. Vielmehr muss die Physikerin wegen
der neuen Gefahr nun an das Gefühl appellieren.

Noch bevor das ohnehin nicht einfache Treffen am Nachmittag beginnt,
setzt das Kanzleramt am Morgen eine auch für viele Länder
überraschende Zielmarke: Im Entwurfpapier für die Verhandlungen wird
plötzlich eine Verlängerung des Lockdowns unter anderem für Handel
und Wirtschaft um einen Monat bis Mitte März vorgeschlagen. Im
Gegenzug - so kann man es lesen - sollen die Länder «im Rahmen ihrer
Kultushoheit» freie Hand für die Öffnung von Schulen und Kitas
bekommen. Samt Aussicht auf geöffnete Friseurgeschäfte von März an.

Die Reaktionen der Ministerpräsidenten fallen dem Vernehmen nach
vielfach alles andere als zustimmend aus. Immerhin hatten hier viele
Anfang März als maximale Dauer des Lockdowns eingepreist. Von einem
«Holzhammer» ist die Rede, von einer «Trotzhaltung». Folge: Die f
ür
11.00 Uhr angesetzte erste Verhandlungsrunde der Ministerpräsidenten
ohne Merkel muss um mehr als eine Stunde verschoben werden.

Warum Merkel so handelt, hat sie schon am Vortag in der
Online-Sitzung der Unionsfraktion erläutert: Die Bürger hätten durch

das Einhalten der Regeln bereits viel möglich gemacht, lobt sie dort
zwar laut Teilnehmern. Aber man wisse auch, wie schnell die Zahlen
wieder steigen könnten - gerade angesichts der gefährlichen Mutanten.
Schon dort spricht sie Klartext: So schwer es auch fällt, sie sei
gegen jegliche Lockerungen vor dem 1. März.

Dass das Kanzleramt im Bildungs-Passus seines Entwurfs den Ländern
dann doch freie Hand für die schrittweise Rückkehr zum
Präsenzunterricht und die Ausweitung der Kindertagesbetreuung gibt,
könnte als Einknicken der Kanzlerin gewertet werden. Oder als
taktischer Zug, da Merkel weiß, dass die Länder sich im Schul- und
Kultusbereich ohnehin nicht reinreden lassen.

Bleibt die Frage, wie die Ergebnisse der Bund-Länder-Schalte so
verkauft werden können, dass die coronamüde Bevölkerung auch weiter
mitzieht. Dazu brauchen die Menschen zum einen eine Perspektive und
zum anderen direkte Ansprachen: Genau diesen Weg hat Merkel bereits
aufgenommen. Immer wieder stellt sich die Kanzlerin vor Kameras und
Mikrofone. Dazu passt auch, dass sie an diesem Donnerstag im
Bundestag ihre nächste Regierungserklärung zur Pandemie abgeben wird.

Doch zunächst muss Merkel dafür sorgen, dass Bund und Länder ihren
mühsam erkämpften gemeinsamen Pfad im Krisenmanagement nicht im
Streit um Lockerungen aufgeben. Doch genau das ist wegen der sich
regional sehr unterschiedlich entwickelnden Lage längst nicht
ausgeschlossen. Seit Wochen machen Pläne über stufenweise Lockerungen
(oder zumindest die Aussicht darauf) die Runde. Und - wer will es der
Bevölkerung verübeln - sie alle fallen nach rund einem Jahr der
Pandemie auf fruchtbaren Boden. Wer dagegenhalten will, braucht gute
Argumente und starke Nerven.

Was die Fakten angeht, sehen sich Merkel und ihre Unterstützer eines
langsamen Kurses - allen voran die Ministerpräsidenten aus Bayern und
Nordrhein-Westfalen, Markus Söder (CSU) und Armin Laschet (CDU) -
bundesweit sinkenden Infektionszahlen gegenüber, die auf den ersten
Blick nichts anderes als Lockerungen realistisch erscheinen lassen.

Ein Königsweg in dieser Gemengelage dürfte unmöglich sein. Jeder
Kompromiss muss damit leben, dass er anderen Anforderungen nicht
gerecht wird. Bleibt Deutschland noch länger im harten Lockdown,
schadet dies Wirtschaft und Handel. Umgekehrt kann jede Lockerung die
bisher erzielten Erfolge im Pandemiemanagement zunichtemachen. Wie
der schleppende Anlauf bei den Impfungen im Land fallen Merkel und
Co. die schleppend ausgezahlten Corona-Hilfsgelder auf die Füße.

Der Schlüssel liegt einmal mehr im Faktor Zeit. Sie erwarte, dass die
britische Variante des Virus in wenigen Wochen auch in Deutschland
die dominante sein werde, sagt Merkel am Dienstag in besagter
Online-Sitzung der Unionsfraktion. Dann sei die Gefahr groß, dass die
Fallzahlen wieder steigen. Aus dem Lager der Merkel-Unterstützer in
den Ländern ist zu hören, dass Mitte März die teils sehr aggressiven

Mutanten das Infektionsgeschehen auch in Deutschland dominieren
werden. Was dann drohe, habe sich schon in Portugal, England und
Irland gezeigt - explodierende Infektionszahlen ohne jede Kontrolle.

Ob das auch für Deutschland zwingend so kommen muss, weiß niemand
sicher. Klar ist nur: Je niedriger die Fallzahlen dann sind, desto
besser könnte das Land eine drohende dritte Welle überstehen. Merkel
spricht am Dienstag davon, dass die Zeit, in der die britische
Virusvariante noch nicht die Oberhand gewonnen habe, mit aller Kraft
genutzt werden müsse, die Infektionszahlen herunter zu bekommen.

Bei den Verhandlungen kommt Merkel aber noch etwas zu Gute: Zum einen
genieße sie - so heißt es von Länderseite - parteiübergreifend gro
ße
Autorität. Denn letztlich habe die Kanzlerin bisher mit ihrem
besonders vorsichtigen Kurs immer Recht behalten. Zum anderen wolle
niemand durch einen Alleingang am Ende die alleinige Verantwortung
übernehmen, sollten sich Merkels Befürchtungen wieder bestätigen. Und

noch eine Last muss Merkel nicht tragen: Anders als alle anderen am
Verhandlungstisch könne sie ohne jede Angst wegen kommender Wahlen
agieren, heißt es. Auch das dürfe niemand unterschätzen.