Corona-Pandemie - Ein Virus bringt das Jahr der Zahlen Von Marco Krefting, dpa

Für viele ist der morgendliche Blick auf die aktuellen Corona-Daten
zur täglichen Routine geworden. Kurven zum Verlauf der
Corona-Pandemie werden verfolgt oder immer neue Daten bei
Online-Portalen abgerufen. Selten waren Zahlen derart gefragt.

Stuttgart (dpa) - Mit Corona standen sie im Jahr 2020 so stark im
Fokus wie selten: Zahlen, Kennwerte, Verläufe. Einer der ersten
Begriffe dabei: die Herdenimmunität. Schon im Februar sprach der
Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité darüber, dass
sich wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent der Menschen infizieren
müssten, bis die Corona-Welle von allein abebben würde. Über
Dunkelziffern wurde und wird diskutiert, über R-Werte und
Sieben-Tage-Inzidenzen. Der Blick auf Zahlen ist vielen zur täglichen
Routine geworden.

Auch Menschen, die sonst um Mathematik und Zahlen einen großen Bogen
machen, setzen sich nun intensiv mit solchen Angaben auseinander,
klicken sich durch immer neue Tabellen und Grafiken. Fachleute sehen
darin ein gutes Zeichen: «Eine Gewinnerin der Corona-Krise ist die
Wissenschaft der Statistik», sagt Mathematik-Professor Christian
Hesse von der Universität Stuttgart. «Verlässliche Daten können Gol
d
wert sein und Datenanalytiker sind moderne Goldgräber. Sie finden im
Wirrwarr unübersichtlicher Datenberge die Nuggets belastbaren
Wissens, das die Schlüssel-Ressource für sachgerechtes Handeln der
Politiker ist.»

Die Corona-Krise zeige, dass Zahlenkompetenz überlebenswichtig sei.
«Folgte man im Blindflug ohne Datengrundlage den emotional
aufgeladenen Mythen der Wissenschaftsskeptiker, würde die Menschheit
in der aktuellen Krise vielleicht sogar in existenzielle Not
geraten», so Hesse. Er geht von einem langfristig wachsenden
Interesse an Daten und ihrer sachgerechten Interpretation aus.

Ähnlich sieht es der Psychologe Gerd Gigerenzer, der am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gearbeitet hat und
inzwischen das Harding-Zentrum für Risikokompetenz leitet. «Corona
gibt uns eine Chance, die Zahlenblindheit und das Desinteresse an
Zahlen zu überwinden.» Schulen könnten die Gelegenheit nutzen und
nachhaltig etwas verändern. Anhand konkreter Corona-Beispiele könnten
etwa Unterschiede von relativen und absoluten Werten erklärt werden,
so Gigerenzer.

Der Kenntnisstand bisher ist aus Sicht des Experten bescheiden: «Viel
Interesse heißt nicht immer, dass man es auch versteht», sagt er.
«Wir haben in Deutschland das Problem, dass viele statistische Zahlen
nicht verstehen.» Das gelte auch für Ärzte, Manager und Politiker.
«Das ist aber kein unüberwindbares Problem», meint Gigerenzer. «Wir

haben auch allen Lesen und Schreiben beigebracht.»

Wichtig sei es, Zahlen richtig einzuordnen, Hintergründe zu
verstehen. So müssten etwa Neuinfektionen in Bezug zur Anzahl an
Corona-Tests gesetzt und die Positivrate betrachtet werden.
Grenzwerte wie 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen einer
Woche seien wichtig, um Handlungen zu definieren. «Man muss aber
verstehen, dass Grenzwerte immer willkürlich sind», so Gigerenzer.

Einfach nur Zahlen herunter zu rattern greife zu kurz. «Es ist
wichtig, dass man tiefer geht», sagt Gigerenzer. «Das ist aber
aufwendig.» Viele Menschen klammerten sich eher an eine Zahl, statt
dass sie versuchten, die Zusammenhänge zu verstehen.

Zur Zahlenkompetenz gehöre auch, die Qualität der Daten einschätzen
zu können - einschließlich der Unsicherheiten, mit denen Daten
behaftet sind, sagt Hesse. «Dazu gehören Dunkelziffern, Verzerrungen
und Streubereiche.» Er geht davon aus, dass manches nach Corona
bleiben wird. «Etwa die Einsicht, dass Wissenschaft und
Datenkompetenz Game-Changer sind. Sie sind die besten derzeit
bekannten Werkzeuge für unser Überleben und Wohlergehen», so Hesse.
«Es gibt Studien, die eindeutig belegen, dass Menschen mit
Zahlenkompetenz nur selten Corona-Leugner, Maskenverweigerer,
Impfgegner oder Verschwörungstheoretiker sind.»

Und im neuen Jahr? Wenn erste Impfstoffe breit verfügbar auf dem
Markt sind, werden neue Werte ins Zentrum rücken: Impfquoten und
Logistik-Werte zum Beispiel - und wohl auch wieder die
Herdenimmunität.