In Pandemie vergessen? - Menschen mit Behinderung leiden oft stärker Von Christina Sticht, dpa

Wer die staatlichen Maßnahmen gegen Corona intellektuell nicht
versteht, kann Ängste oder auch Aggressionen entwickeln. Die Politik
habe in der Krise die Belange von beeinträchtigten Menschen zu wenig
im Blick, beklagen Vertreter der Behindertenhilfe.

Hildesheim (dpa) - Sorgen um die Gesundheit, finanzielle Not oder
einfach nur Langeweile: Die Corona-Pandemie belastet jeden; Menschen
mit Beeinträchtigungen treffen die Einschränkungen jedoch besonders
hart. «Nach den guten Fortschritten im Bemühen um Inklusion bedeutet
Corona fast eine Rolle rückwärts», sagt Ulrich Stoebe, Direktor der
Diakonie Himmelsthür. Der größte Träger der Eingliederungshilfe in

Niedersachsen unterstützt vorwiegend Menschen mit geistigen
Behinderungen. Einige hätten wegen der Pandemie-Berichte im Fernsehen
übergroße Ängste entwickelt, daraus resultierten teilweise auch
Aggressionen, berichtet Stoebe. «Ihr Alltag wurde komplett über den
Haufen geworfen. Die psychische Belastung ist groß, gerade weil viele
den Corona-Sachverhalt nicht nachvollziehen können.»

Werden Menschen mit Behinderungen in der Pandemie vergessen? Knapp
eine Million bezogen 2018 bundesweit Leistungen der
Eingliederungshilfe. Weder die Einrichtungen noch die Betroffenen
würden bei den relevanten Gesetzentwürfen ausreichend berücksichtigt,

beklagt der Verband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP).
Für das Personal sei keine Corona-Prämie vorgesehen. «Auch viele
Menschen mit Behinderung müssen mit einem schweren Krankheitsverlauf
rechnen, wenn sie sich mit Covid-19 anstecken», sagt die frühere
Gesundheitsministerin und Vorsitzende der Lebenshilfe, Ulla Schmidt
(SPD). Daher müssten auch deren Betreuer die Möglichkeit erhalten,
sich vorrangig impfen zu lassen.

Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung an diesem
Donnerstag (3. Dezember) will auf die Rechte der Betroffenen
aufmerksam machen.

Während des ersten Lockdowns gab es ein Besuchsverbot in Heimen und
Wohngruppen, auch die Behindertenwerkstätten wurden geschlossen. Im
Juni begann eine schrittweise Öffnung. Allerdings können zum Beispiel
in der Tagesförderstätte am Hauptsitz der Diakonie Himmelsthür in
Hildesheim pro Gruppe nur 15 statt sonst 30 Frauen und Männer betreut
werden. Zudem bleiben immer diejenigen zusammen, die auch zusammen
wohnen - eine Kohortenbildung ähnlich wie in den Schulen. Vor Corona
wurde gerade dies vermieden. Jetzt droht ein Lagerkoller. «Sie
vermissen Sport, Einkaufstouren und selbst die Busfahrten», erzählt
Marianne Heller, Fachbereichsleiterin Tagesförderstätten. «Der
Stresspegel ist deutlich höher.»

Für die niedersachsenweit rund 30 Standorte der Diakonie Himmelsthür
wurde ein Hygienekonzept entwickelt. Täglich muss eine Balance
zwischen dem Bedürfnis nach Selbstständigkeit und körperlicher Nähe

und dem Infektionsschutz gefunden werden. In einer Wohngruppe in Bad
Salzdetfurth hatte es im Mai einen Corona-Ausbruch gegeben: 32
Menschen infizierten sich - eine 46 Jahre alte Bewohnerin starb,
nachdem sie auf der Intensivstation beatmet werden musste.

Nach der ersten Phase der Pandemie stellte der Psychologische Dienst
der Diakonie laut Stoebe bei vielen Menschen Verschlechterungen fest.
Beraubt um die Beschäftigung abseits der Wohngruppe, zogen sie sich
zurück und verloren erlernte Fähigkeiten. In der Zeit des
Besuchsverbots seien einige Wohngemeinschaften aber auch enger
zusammengerückt, erzählt der Direktor. Aus der Not heraus seien sogar
neue Hobbys wie Häkeln oder Gitarre spielen entdeckt worden.

Trotz einzelner Ausbrüche sei es richtig, die sozialen Einrichtungen
während des Teil-Lockdowns offenzuhalten, sagt Christian Germing, der
sich im Verband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie engagiert.
In den Werkstätten werden nach seiner Einschätzung die Abstands- und
Hygieneregeln gut umgesetzt. «Menschen mit geistiger und vor allem
psychischer Behinderung brauchen eine feste Tagesstruktur.» Einige
von ihnen hätten sogar Angst vor ihrem Urlaub, weil dann die Struktur
verloren gehe, sagt der Leiter des Caritasverbandes für den Kreis
Coesfeld im Münsterland. «Die komplette Schließung im Frühjahr war

auch für die Angehörigen eine große Belastung.» So hätten Eltern
im
Alter von über 80 Jahren tagsüber anstelle der Werkstätten die
Betreuung und teils auch Pflege ihrer erwachsenen Kinder übernommen.