Gutachter hält Angeklagten im Lübcke-Prozess für schuldfähig Von Eva Krafczyk, dpa

Was für ein Mensch ist der mutmaßliche Mörder des Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke? Auch der psychiatrische
Gutachter erhielt nur wenig Einblicke in die Gefühlswelt des
Angeklagten. Die Gefahr schwerer Straftaten sieht er weiterhin.

Frankfurt/Main (dpa) - Stephan Ernst, der mutmaßliche Mörder des
Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, ist nach Einschätzung
des psychiatrischen Sachverständigen Norbert Leygraf schuldfähig. In
den Gesprächen mit dem Angeklagten habe er keine Hinweise auf
entsprechende Störungen, eine «forensisch relevante Minderbegabung»
oder Einflüsse durch Suchtmittel festgestellt, sagte der Experte am
Donnerstag bei der Vorstellung seines Gutachtens vor dem
Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt. Auch Hinweise auf eine
Bewusstseinsstörung lägen nicht vor. Er gehe davon aus, dass Ernst
weitere vergleichbare schwere Straftaten begehe, wenn er die
Möglichkeit dazu habe. Damit lägen auch Voraussetzungen für eine
Sicherheitsverwahrung vor.

Wenn es um Einblicke in menschliche Abgründe geht, kennt sich
Leygraf aus: Der 67 Jahre alte forensische Psychiater erstellt seit
Jahrzehnten Gutachten zu Angeklagten in Kriminalfällen. Auch mit
Ernst hat er im Januar in der Justizvollzugsanstalt Kassel neun
Stunden lang Gespräche geführt, hat den Prozess begleitet und sich
dort Notizen gemacht. Für das Gericht geht es bei dem Gutachten vor
allem um die Schuldfähigkeit und die Frage, ob von dem Angeklagten
eine Gefahr ausgeht, die auch Voraussetzungen für eine mögliche
Sicherheitsverwahrung schafft.

Leygraf, mit Brille und grau melierten kurzen Vollbart, hat im
Zeugenstand Routine, trägt ruhig und bedächtig sein Gutachten zu
Ernst vor. Der sitzt, wie so häufig, mit nach unten gerichtetem Blick
auf seinem Platz. Noch zu Beginn der Verhandlung hatte die Frage nach
einer möglichen Verhandlungsunfähigkeit von Ernst zu einem heftigen
Wortwechsel zwischen dem Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel und und
Ernsts Verteidiger Mustafa Kaplan geführt, dem der Richter vorwarf,
«Spielchen» zu treiben. «Ich glaube, dass Sie die Vernehmung des
psychiatrischen Sachverständigen verhindern wollen - das wird Ihnen
nicht gelingen», so der Richter.

Ernst hatte nach Angaben seines Anwalts über Kopfschmerzen,
Abgeschlagenheit und Konzentrationsprobleme geklagt. Möglicherweise
seien dies ja sogar die ersten Symptome einer Covid-19-Erkrankung.
Ehe Leygraf sein Gutachten erläuterte, untersuchte der Mediziner den
Angeklagten. «Dass er angespannt ist, ist nachvollziehbar, aber ich
sehe keinen Hinweis, dass er der Hauptversammlung nicht folgen kann»,
sagte er anschließend.

Was für ein Mensch der im Prozess häufig wie versteinert auf seinem
Platz sitzende Ernst ist, haben sich wohl viele Prozessbeobachter
gefragt. Leygraf beschrieb den 47-Jährigen als «eher zurückhaltenden

Einzelgänger, der kaum engere Freunde hat». Nach außen wirke er
emotional kühl und wenig empathisch. Er habe Ernst als stets höflich
und zurückhaltend erlebt. Häufig habe er erst nach längeren Pausen
oder Nachfragen, dann aber lang ausholend geantwortet. Dabei seien
die Angaben oft sehr vage geblieben. Emotionen habe Ernst nur
gezeigt, als es um die Beziehung zu seinem Vater ging, den er in
seiner Einlassung vor Gericht als gewalttätig und lieblos beschrieben
hatte.

Echte Einblicke in sein Seelenleben, so lässt das Gutachten vermuten,
hat der Angeklagte dabei nicht ermöglicht. «An keiner Stelle der
Exploration entstand der Eindruck eines wirklich offenen Gesprächs»,
heißt es darin. «Ich habe den Eindruck, dass er nicht spontan
antwortet, sondern überlegt, wie man die Antwort möglicherweise
auslegt», sagte Leygraf auf eine Frage von Ernsts Verteidiger.

Auch die wenigen Gefühlsausbrüche in den Vernehmungsvideos und vor
Gericht waren nach Einschätzung des Sachverständigen möglicherweise
nicht authentisch. Ernst habe sich zwar mehrfach die Augen gewischt,
aber: «Ich habe keine Tränen gesehen», sagte Leygraf.

Die Darstellung Ernsts, dass er sich von der ausländerfeindlichen
Einstellung seiner Jugend gelöst habe, erscheine zweifelhaft, sagte
der Experte. Die Bereitschaft, aus dieser Gesinnung heraus schwere
Straftaten zu begehen, habe er bereits als Jugendlicher und
Heranwachsender unter Beweis gestellt. Diese Gesinnung sei tief in
der Persönlichkeit von Ernst verankert, betonte Leygraf. Um sich
davon lösen zu können, sei wohl eine lange und intensive
Einzeltherapie nötig.

Der 47 Jahre alte Deutsche Stephan Ernst soll Lübcke im Juni 2019 auf
der Terrasse von dessen Wohnhaus erschossen haben. Außerdem ist
Ernsts früherer Arbeitskollege Markus H. wegen Beihilfe angeklagt. Er
soll Ernst politisch beeinflusst haben. Die Bundesanwaltschaft geht
von einem rechtsextremistischen Motiv für die Tat aus.