Der deutsche «Flickenteppich» - Fluch oder Vorbild? Von Christoph Driessen, dpa

Ist der deutsche Föderalismus in der Corona-Krise schädlich? Was
jetzt als «Flickenteppich» geschmäht wird, bewunderte ein
französischer Aufklärer schon 1748 als die «föderative Republik
Deutschland».

Berlin/Münster (dpa) - Derzeit wird wieder viel über den deutschen
«Flickenteppich» geklagt. Die starke Eigenständigkeit der 16
Bundesländer führe in der Corona-Pandemie zu einem undurchdringlichen
Wust von Regeln, heißt es. Eine Abstimmung werde durch die deutsche
«Kleinstaaterei» verhindert oder zumindest erschwert - wie die zähen

Verhandlungen zwischen Bund und Ländern im Kanzleramt immer wieder
zeigten.

Die Klage über den deutschen Föderalismus ist sehr alt. «Die
Abweichungen dieses Landes sind so groß, dass man nicht weiß, wie man
so verschiedene Religionen, Regierungsformen, Klimata, ja Völker
unter einen und denselben Gesichtspunkt bringen soll», schrieb 1813
zur Zeit Goethes die französische Schriftstellerin Germaine de Staël
in ihrem internationalen Bestseller «De l'Allemagne» (Über
Deutschland). In diesem Land fehle es an einem echten Machtzentrum,
analysierte sie.

Noch nicht einmal auf einen einheitlichen Fluch könnten sich die
Deutschen einigen, bemerkte der Publizist Carl Julius Weber
(1767-1832): In Schwaben sei es «Potzblitz», in Bayern «Sauschwanz»

und in Preußen «Gott straf mir».

Viele werden sich noch an eine Karte erinnern, die in so ziemlich
jedem Schulgeschichtsbuch steht: Das Heilige Römische Reich Deutscher
Nation als vielfarbiges Sammelsurium von Königreichen, Herzogtümern,
Grafschaften und irrwitzigen Mini-Territorien im Stil von Lummerland,
regiert von König Alfons dem Viertelvorzwölften. Ein «Flickenteppich
»
eben.

Der Historiker Jürgen Overhoff hat dazu geforscht und sieht die Dinge
etwas anders. «Diese Karten gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert»,
hat der Münsteraner Professor herausgefunden. «Es gab zum Beispiel
ein wichtiges Schulbuch aus dem Jahr 1774, und das zeigt einfach
«Deutschland» mit seinen Außengrenzen. Fertig.» Das Reich sei von d
en
Zeitgenossen als vollwertiger Staat betrachtet worden, nicht als
kleinteilig-defizitär.

Das soll nicht heißen, dass die vielen Einzelstaaten mit eigenen
Souveränitätsrechten nicht existiert hätten. Aber sie waren eben doch

miteinander verbunden, sie kooperierten auf dem Reichstag in
Regensburg. «Dort hat man vereinfacht gesagt eine Mischung aus
Bundestag und Bundesrat gehabt. Da haben sich die deutschen Länder
getroffen und Absprachen gemacht», erläutert Overhoff.

Der französische Staatstheoretiker und Aufklärer Baron de Montesquieu
beschrieb dieses Gebilde 1748 anerkennend als «République fédérativ
e
d'Allemagne», die föderative Republik Deutschland. Ihn beeindruckte
vor allem die so erzielte Aufteilung der Macht: In Frankreich
hingegen besaß der König die absolute Herrschaftsgewalt.

Die Architekten der amerikanischen Verfassung, Benjamin Franklin und
James Madison, hätten sich ebenfalls ausdrücklich auf das deutsche
Modell bezogen, sagt Overhoff, der selbst die Akten dazu in
Philadelphia ausgewertet hat. Die US-Staaten entstanden zunächst als
selbstständige Einheiten und schlossen sich erst im
Unabhängigkeitskrieg gegen die Kolonialmacht Großbritannien zusammen.
«Und wohin schauten sie da? Auf die drei Nationen, die im 18.
Jahrhundert schon föderal organisiert waren: die Schweiz, die
Niederlande - und Deutschland.»

Der spätere vierte US-Präsident James Madison ging daran, die
Verfassung «in Analogie» zur deutschen Reichsverfassung zu entwerfen.
So verglich er 1787 die Kompetenzen des Präsidenten mit denen des
deutschen Kaisers. Jefferson bereiste unterdessen das Rheinland, um
sich vor Ort ein Bild zu machen. Er pries das «bemerkenswert gute
Brot» und den «gefeierten Schinken» - und schrieb an George
Washington, die «Freiheiten des deutschen Staatskörpers» würden dur
ch
das föderale System gewährleistet. Allerdings müssten in der
US-Verfassung die demokratischen Elemente noch stärker ausgearbeitet
werden.

Der abwertende Begriff «Flickenteppich» und die berühmte Karte mit
dem in zahllose Farbfleckchen zerfallenen Deutschland kamen erst in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf: Damals schmiedete Otto
von Bismarck das von Preußen dominierte Kaiserreich - und musste
dafür den bisherigen Zustand als «das pure Grauen» diskreditieren,
wie Overhoff formuliert: ««Flickenteppich» ist ein politischer
Kampfbegriff.»

Dass das Wort derzeit so oft verwendet wird, betrachtet Overhoff als
unfaires Föderalismus-Bashing. «Wenn dieser Ruf nach Einheitlichkeit
erklingt, höre ich da immer heraus: Hier soll ein Einziger das Zepter
schwingen, von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen. Hier soll
durchregiert werden. Dabei sind wir immer gut gefahren mit kleineren
Einheiten - auch wenn das manchmal mühsam ist.»