Geht da noch was? Die endlose Nervenprobe um den Brexit Von Verena Schmitt-Roschmann und Silvia Kusidlo, dpa

Im Juni 2016 entschieden sich die Briten für den EU-Austritt. Bis
heute herrscht Unsicherheit, was danach kommt. Am Donnerstag richtete
der EU-Gipfel einen offiziellen Appell an London. Aber vielleicht
weist ein alter Song von Katja Ebstein den Weg.

Brüssel/London (dpa) - Es ist nicht vorbei, bis es vorbei ist. Dieser
seltsame Spruch gilt auch für den Brexit. Selbst nach viereinhalb
Jahren geht die Hängepartie um den britischen EU-Austritt weiter und
zerrt an den Nerven Tausender Unternehmer und Zehntausender
Arbeitnehmer, die zum Jahresende wirtschaftliches Chaos fürchten.

Der britische Premierminister Boris Johnson hält sich vorerst offen,
die Verhandlungen und damit auch das anvisierte Handelsabkommen mit
der Europäischen Union platzen zu lassen. Er will nach dem bis
Freitag dauernden EU-Gipfel entscheiden und sich am gleichen Tag noch
äußern. Die EU will weiter verhandeln, gab sich aber ihrerseits zum
Gipfelstart am Donnerstag strikt. Es sei an Großbritannien, «die
nötigen Schritte zu tun, um ein Abkommen möglich zu machen»,
beschlossen die Staats- und Regierungschefs in einer Gipfelerklärung.
Man wolle einen Deal, aber nicht zu jedem Preis, sagte auch
Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Halten beide Seiten eine Einigung noch für möglich?

Die Stimmung schwankt, aber noch gibt es Hoffnung. Während Johnson
bislang versprach, dass Großbritannien auch ohne Einigung eine
«fantastische Zukunft» bevorstehe, betont er nun, dass London und
Brüssel von einem Handelspakt profitieren könnten. Staatsminister
Michael Gove bezifferte die Erfolgsaussichten für einen Deal auf 66
Prozent. Der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange sieht die Chance nur
bei 40 Prozent und bemüht das deutsche Liedgut: «Entweder Katja
Ebstein: «Wunder gibt es immer wieder» oder Christian Anders: «Es
fährt ein Zug nach nirgendwo».» Viele in Brüssel sind verärgert,
seit
Johnson mit seinem Binnenmarktgesetz versucht, Sonderregeln für
Nordirland im bereits gültigen Brexit-Abkommen auszuhebeln. London
spricht von einem «Sicherheitsnetz», Brüssel indes von Vertragsbruch.

Misstrauen trübt nun die Verhandlungen über das neue Abkommen.

Worüber wird eigentlich verhandelt?

Ein Handelspakt soll die Beziehungen nach der wirtschaftlichen
Trennung neu regeln. Großbritannien hat die EU zwar schon im Januar
verlassen, ist aber bis zum Jahresende noch im Binnenmarkt und in der
Zollunion. Der Vertrag soll Zölle verhindern und den Handel so
störungsfrei wie möglich halten. Etliche weitere Themen werden mit
verhandelt, darunter polizeiliche Zusammenarbeit, Datenschutz,
Klimaschutz, Sozialversicherungsfragen, Aufenthaltsrechte und vieles
mehr. Ein mehrere Hundert Seiten starkes Abkommen soll zum 1. Januar
2021 in Kraft treten - eigentlich. Doch zweieinhalb Monate vor dem
Stichtag gibt es noch immer keinen beiderseits akzeptierten
Vertragstext. Man habe zwar Fortschritte in vielen Punkten gemacht,
aber eben noch nicht in den entscheidenden, heißt es auf beiden
Seiten.

Woran hängt es?

Es gibt drei Knackpunkte: Da ist zum einen der Zugang für EU-Fischer
zu britischen Gewässern - für die EU-Küstenstaaten wie Frankreich ist

das ein ebenso emotionales Thema wie für Großbritannien, das endlich
alleine über seine reichen Fischgründe bestimmen will. Zweiter
zentraler Punkt ist das sogenannte Level Playing Field: Die EU will
im Gegenzug für zollfreien Zugang zum Binnenmarkt gleiche Umwelt-,
Sozial- und Beihilfestandards als Schutz vor Dumping. Doch
Großbritannien will sich von der EU nicht mehr reinreden lassen. Das
gilt auch für Punkt drei, die sogenannte Governance: Die EU verlangt
ein zuverlässiges Schlichtungsinstrument für den Fall, dass eine
Seite vom Vertrag abweicht. Damit beißt sie in London auf Granit.

Welche Rolle spielt Premier Boris Johnson bei den Verhandlungen?

Johnson war über weite Strecken kaum präsent, allenfalls in
wortgewaltigen Reden von London aus. Kritiker werfen ihm vor, ein
Großmaul und schlechter Krisen-Manager zu sein, der beim Brexit -
ebenso wie bei der Bekämpfung der Corona-Krise - einen Schlingerkurs
fahre. Nach einem Telefonat mit EU-Ratschef Charles Michel und
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwochabend ließ der
Premier erklären, ein Deal sei zwar «wünschenswert», doch sei er
enttäuscht über die langsamen Fortschritte. Er werde nach dem Gipfel
reflektieren und dann über die nächsten Schritte Großbritanniens
entscheiden. Er wolle sich am Freitag äußern, twittere sein
Chef-Unterhändler David Frost am Donnerstagabend.

Wer wären die Verlierer bei einem No Deal?

Wohl die meisten. Die Auswirkungen für Großbritannien dürften
Prognosen zufolge erheblich sein: Zölle und weitere Handelshemmnisse
würden eingeführt, Tausende Lastwagen könnten sich wegen der
Grenzkontrollen im Raum Dover stauen, Regale in Supermärkten und
Apotheken leer sein - dies wäre wohl das Letzte, was das von der
Pandemie getroffene Vereinigte Königreich gebrauchen könnte. Auch die
EU-Staaten würden gebeutelt. Zehntausende Jobs seien in Gefahr,
warnte der Bundesverband der Deutschen Industrie erst am Mittwoch
gemeinsam mit Wirtschaftsverbänden in Frankreich und Italien. In
Deutschland sorgt sich vor allem die angeschlagene Autobranche. In
Großbritannien drohen zusätzlich innenpolitische Verwerfungen:
Schottlands Bestreben nach Unabhängigkeit könnte noch größer werden

und die Oppositionspartei Labour punkten.