Kreidezähne: Eine Krankheit mit noch vielen Rätseln Von Irena Güttel, dpa

Bei manchen Kindern zerbröseln die Zähne regelrecht im Mund. Die
Ursachen für die Krankheit MIH sind noch immer nicht bekannt. Eltern
können trotzdem etwas tun.

Berlin (dpa) - Die Zähne der kleinen Patienten sind gelb oder
bräunlich verfärbt. Manche sind so porös, dass sie zerbröseln. Die

Kinder, die zu Katrin Bekes in die Spezialambulanz kommen, haben fast
immer starke Zahnschmerzen und Angstzustände. «Wir haben Kinder,
denen allein der thermische Reiz eines kalten Instruments oder des
wärmenden Lichts der OP-Lampe schmerzt», sagt die Professorin für
Kinderzahnheilkunde an der Medizinische Universität Wien vor dem Tag
der Zahngesundheit am 25. September. Viele wollen sich erst gar nicht
in den Mund schauen lassen.

Die Kinder, die Katrin Bekes behandelt, leiden unter MIH - kurz für
Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation. Bei diesen Kindern ist die
Mineralisation des Zahnschmelzes der ersten bleibenden Backenzähne
(Molaren) und zum Teil der Schneidezähne (Inzisiven) gestört. In
schwächeren Fällen sind die Zähne nur verfärbt, in schweren Fälle
n
ist der Zahnschmelz stark geschwächt und bricht ein. Deshalb spricht
man allgemein auch von Kreidezähnen. Die betroffenen Kinder reagieren
an den Zähnen extrem empfindlich auf Berührungen und Temperatur.

1987 haben schwedische Wissenschaftler die Krankheit erstmals
beschrieben. Seitdem scheint sich diese auszubreiten. «Etwa 14
Prozent sind weltweit betroffen», sagt Bekes, die auch Präsidentin
der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde ist. Die Zahlen
schwankten aber stark von Studie zu Studie. In Deutschland leiden
sogar 28 Prozent der Zwölfjährigen an MIH, wie die 5. Deutsche
Mundgesundheitsstudie in der ersten bundesweiten Untersuchung
herausfand. Bei dem Großteil davon treten allerdings nur Verfärbungen
auf.

Der Kinderzahnheilkunde-Experte Norbert Krämer vom
Universitätsklinikum Gießen hält diese Zahlen für zu hoch, sieht ab
er
auch eine Zunahme der Erkrankungen. «Auch die Schwere der Fälle nimmt
zu», sagt er. Wie Bekes zählt er zu den MIH-Fachleuten, hat diverse
Studien zu der Krankheit publiziert und gibt Fortbildungen für
Zahnärztinnen und Zahnärzte.

«Der Blick hat sich geschärft», sagt Dietmar Oesterreich,
Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer in Berlin. Heute würden mehr

MIH-Fälle erkannt, die man früher für Karies gehalten hätte. «Des
halb
streiten sich die Wissenschaftler, ob es sich um eine relative oder
absolute Zunahme bei MIH handelt.»

Viele Kinder haben heutzutage kariesfreie Zähne - auch weil die
Eltern auf gründliches Zähneputzen und eine gesunde Ernährung achten.

Auf die Bedeutung gesunder Zähne weisen jedes Jahr am 25. September
zahlreichen Veranstaltungen und Aktionen bundesweit hin. In diesem
Jahr steht die Ernährung im Mittelpunkt. Dabei geht es unter anderem
um die Frage, was den Zähnen schadet und was sie stärkt.

Auf die Entstehung von MIH hat die Ernährung allerdings genauso wenig
Einfluss wie das Zähneputzen. Die Wiener Expertin Bekes trifft oft
auf verzweifelte Eltern, die sich Vorwürfe machen. «Die Eltern müssen

wissen, dass sie nichts falsch gemacht haben», sagt sie. Die Schäden
entstehen, wenn sich der Zahnschmelz bildet, die Zähne also noch im
Kiefer liegen. Bei den ersten bleibenden Backenzähnen sei das in der
Hauptphase zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr, erläutert
Bekes.

Auf Röntgenbildern lasse sich der geschwächte Zahnschmelz nicht
erkennen. Deshalb würden die Schäden erst Jahre später sichtbar, wenn

die Zähne durchbrechen. Das mache die Forschung nach der Ursache auch
so schwierig, betont Bekes. «Es gibt plausible Erklärungsversuche,
aber wir fischen immer noch im Trüben.»

Als Auslöser kommen unter anderem Antibiotika, Infektionskrankheiten,
die Ernährung in der Schwangerschaft, Umwelteinflüsse wie Dioxine
oder die Chemikalie Bisphenol A (BPA) infrage. «Es gibt immer noch
viel Forschungsbedarf», sagt Krämer. Inzwischen ist bekannt, dass
auch andere bleibende Zähne betroffen sein können. Und auch die
zweiten Milchbackenzähne können Mineralisierungstörungen aufweisen -

Milchmolaren-Hypomineralisation genannt. Bei diesen Kindern sei die
Wahrscheinlichkeit elffach höher, das sie auch unter MIH litten, sagt
Krämer.

Doch eben weil die Ursachen für MIH noch nicht bekannt sind, ist
Prävention nicht möglich. Eltern können nach Ansicht von Krämer
trotzdem etwas tun: Die Zähne ihrer Kinder genau beobachten und schon
früh mit ihnen regelmäßig zum Zahnarzt gehen, damit sie sich daran
gewöhnen und später keine Angst haben.