Ballons mit Kindernamen steigen zum Himmel - Solingen trauert Von Rolf Schraa, dpa

Eine junge Mutter in Solingen soll fünf ihrer sechs Kinder umgebracht
haben. Die Betroffenheit ist groß. Es war wohl eine Verzweiflungstat.
Gab es Warnzeichen?

Solingen (dpa) - Melina, Leonie, Sophie, Timo, Luca steht auf den
bunten Ballons, die eine Nachbarsfamilie mitgebracht haben. Fünf
Namen, fünf Kinder, die in Solingen einem Verbrechen zum Opfer
gefallen sind. Der Oberbürgermeister Tim Kurzbach kommt dazu, jeder
nimmt einen Ballon. Schweigend schauen sie sich an, dann lassen sie
die Ballons in den Himmel steigen. Solingen trauert.

Am Samstagabend folgten schätzungsweise 800 Menschen einem Aufruf des
Stadtteils Hasseldelle, um mit Kerzen und einer Schweigeminute der
toten Kinder zu gedenken. «Der Einzelne ist ja gar nicht in der Lage,
so zu trauern, seiner Trauer Ausdruck zu verleihen. In der
Gemeinschaft kann man das, in der Gemeinschaft ist das intensiver»,
sagte der Vorsitzende des Nachbarschaftsvereins, Hans-Peter Harbecke,
dem WDR. Es war ein stilles Gedenken, berichteten Teilnehmer. Viele
schwiegen.

Die 27-jährige Mutter der Solinger Familie soll ihre ein bis acht
Jahre alten Kinder erst betäubt und dann erstickt haben. Gegen die
Frau wurde Haftbefehl erlassen. Nur der Elfjährige, der zur Tatzeit
in der Schule war, überlebte. Die Mutter hatte sich später in
Düsseldorf vor einen Zug geworfen und war schwer verletzt worden. Sie
konnte nach Angaben der Behörden am Freitag noch nicht vernommen
werden. Am Wochenende gab es zu ihrem Gesundheitszustand und zu den
Hintergründen keine neuen Informationen.

Seit Bekanntwerden der Tat kommen immer mehr Menschen zu dem grauen
mehrgeschossigen Wohnhaus der Familie. Neben dem blauen Briefkasten
des Hauses türmen sich inzwischen Friedhofskerzen, Blumen und
Plüschtiere - Zeichen der Anteilnahme. Viele Bürger hätten über die

sozialen Medien Spenden angeboten, hieß es. Die Stadt werde am Montag
ein Spendenkonto eröffnen, aus dem etwa Beerdigungskosten bezahlt
werden könnten, sagte ein Stadtsprecher.

Unklar war zunächst die Zukunft des einzig überlebenden Kindes, eines
elfjährigen Jungen. Er ist jetzt bei seiner Großmutter in
Mönchengladbach.

Die Opferschutzbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, Elisabeth
Auchter-Mainz, sagte, sie habe den Eindruck, dass der Junge und die
Großmutter - auch von Notfallseelsorgern - gut betreut würden. Für
die Zukunft benötigten der Junge und seine Großmutter Zeit. «In so
einer Lage brauchen die Menschen Zeit - und diese Zeit muss dem
Jungen und seiner Großmutter gegeben werden.»

Die Ermittler vermuten, dass die alleinerziehende Mutter von sechs
Kindern nach der Trennung von ihrem Mann die Tat in einem Zustand
emotionaler Überforderung begangen hat. Die Ehe sei zerrüttet
gewesen, berichteten Polizei und Staatsanwaltschaft am Freitag. Vor
der Tat habe die Frau ein Jahr von ihrem letzten Mann, dem Vater von
vier ihrer Kinder, getrennt gelebt. Sie sei die einzige Verdächtige.

Die Familie war dem städtischen Jugendamt vor der Tat bereits bekannt
- aber ein Warnzeichen gab es nach offiziellen Angaben offensichtlich
nicht. «Der Familie wurden von der Stadt Solingen erforderliche
Unterstützungen gewährt. Das Jugendamt hat zusätzlich mögliche
Hilfsangebote unterbreitet», teilte die Stadt mit, ohne Details zu
nennen. «Erkenntnisse zu Auffälligkeiten oder einer potenziellen
Gefährdung der Kinder gab es zu keinem Zeitpunkt.»

Menschen, die sich selbst töteten und andere «mitnehmen» wollten,
empfänden eine Sehnsucht nach «Erlösung», sagt der Psychiater Prof.

Hans-Jörg Assion von der Klinik der Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe in Dortmund. «Die eigene Erlösung von dem Leid wird
auf andere Menschen übertragen, die in das lebensmüde Empfinden
einbezogen werden, quasi um sie ebenfalls von dem Leiden zu
«erlösen».» Ein solches Verhalten sei sehr selten. Bei Warnzeichen
-
etwa dem Reden von Erlösung anderer vom Leid auf Erden - könnten
Traumaambulanzen helfen.

Melina (1), Leonie (2), Sophie (3), Timo (6) und Luca (8) waren von
Polizisten am Donnerstag tot in ihren Kinderbetten in der Wohnung der
Familie gefunden worden. Rechtsmediziner fanden bei der Obduktion
Hinweise darauf, dass die Kinder betäubt wurden und dann entweder
erstickten oder erstickt wurden. Weitere toxikologische
Untersuchungen müssten aber abgewartet werden.