Gütersloh nach dem Lockdown: Noch ein weiter Weg zur Normalität Von Claudia Bonati, dpa

Einen Tag eher als geplant endet im Kreis Gütersloh durch ein
Gerichtsurteil der Lockdown. Wie lebt es sich in einer Region, die
über Nacht zum Corona-Hotspot Deutschlands wurde? Ein Besuch in der
Kreisstadt.

Gütersloh (dpa/lnw) - Mit gut 100 000 Einwohnern ist Gütersloh seit
einigen Jahren offiziell eine Großstadt - aber bislang weit entfernt
von einem Brennpunkt gewesen. Das änderte sich schlagartig, als der
nach der Stadt benannte Kreis plötzlich ins Schlaglicht der
Corona-Krise fiel. Im Tönnies-Werk Rheda-Wiedenbrück brach das Virus
aus und mehr als 1000 Mitarbeiter wurden nachweislich infiziert.

Plötzlich war die Region ein «Hotspot», Schulen, Kitas und Kinos
mussten wieder schließen. Draußen treffen durfte man sich nur zu
zweit. Vorbei. Ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) hob den
neuerlichen Lockdown auf, kurz bevor die Landesregierung das wohl eh
getan hätte. In Gütersloh merkt man keinen großen Unterschied auf der

Straße - aber in den Köpfen der Verbraucher hat sich etwas bewegt.

«Ich habe keine Angst gehabt», sagt Peter Sima in westfälischer
Grammatik, als er am Dienstag zum Einkaufen mit seiner Frau die
Gütersloher Innenstadt besucht. Schuld an allem sei sowieso nur
einer, ist der Maurer sich sicher: «Der Verbraucher! Weil wir das
billige Fleisch haben wollen.» Wut auf den Fleischkonzern Tönnies
kommt daher nicht auf - auch wenn der Corona-Ausbruch in dem Betrieb
zwischenzeitlich das Leben in zwei Kreisen, außer Gütersloh auch
Warendorf, runter gefahren hat. «Vor 30 Jahren wussten wir schon, wie
die Arbeiter hausen», sagt Sima. Ernsthafte Folgen hatte es nicht. 

So oder so ähnlich sehen das viele Gütersloher. Am ersten Tag nach
der Aufhebung der strengeren Corona-Einschränkungen im Kreisgebiet
durch das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen ist die
Lage in der Stadt entspannt. Auf dem Wochenmarkt sind fast genauso so
viele Menschen mit Maske wie ohne unterwegs. Mit jeder Stunde füllt
sich die Innenstadt am Morgen mehr.

Menschen mit Masken, überall Desinfektionsspender, Hinweisschilder,
Abstandsmarkierungen und eine Schlange vor der Apotheke - so oder so
ähnlich sieht es zurzeit überall in NRW aus. So weit alles normal in
Gütersloh. Das Fitnessstudio einer großen Kette hat zwar noch
geschlossen und verweist auf Online-Kurse, aber die Geschäfte,
Restaurants und Cafés sind offen. Genau wie in den letzten Wochen.
Einen «Lockdown light» hatte es in den beiden Kreisen gegeben.

Keine schöne Zeit. Aber: «Die Gütersloher lassen sich nicht
unterkriegen», sagt Rüdiger Abel, der seit 30 Jahren Thüringer
Bratwürste und Frischfleisch auf dem Markt verkauft. «Tönnies treib
t
meinen Umsatz hoch. Jetzt wollen wirklich alle ordentliche Qualität
kaufen», erzählt er. Richtig freuen kann er sich über das Umsatz-Plus

allerdings nicht, denn es fängt kaum das Minus aus seinem zweiten
Standbein auf: Catering. «Die Veranstaltungen fallen ja alle aus,
damit auch unser Umsatz», berichtet Abel von seinem Alltag.

«Als der zweite Lockdown bekannt wurde, war bei mir um 10 Uhr morgens
alles ausverkauft», erzählt auch Christel Röer, die vor allem
Geflügel auf dem Markt in Gütersloh verkauft. «Es normalisiert sich
alles wieder. Allerdings kaufen die Leute tatsächlich bewusster
ein.» Das Fleisch dürfe gerne teurer sein, Hauptsache Haltung und
Herkunft seien in Ordnung.

Das Lockdown-Leben im Kreis und der Stadt war das eine. Dazu kamen
aber mögliche Reisebeschränkungen. «Wir wollten in die Ferien fahren

und haben uns am Anfang überhaupt nicht gut gefühlt, weil wir aus
Gütersloh kommen», erzählt Sandra Jonschker, die mit ihrer Tochter
Lou in der Innenstadt ein Eis isst: «Wir sind gestern von Texel
zurückgekommen und wir haben uns alle Sorgen umsonst gemacht.»

Der Weg hin zu den Ferien sei aufregend gewesen: «Wir haben uns einen
Tag vor der Abfahrt für einen Test angestellt, das negative Ergebnis
per App einen Tag später bekommen.» Kontrolliert habe das in den
Niederlanden allerdings niemand. Jetzt freue sich Tochter Lou vor
allem darüber, dass sie sich wieder mit ihren Freunden treffen kann.

Am Dienstagmorgen wird bekannt, dass die Infektionsrate im Kreis weit
unter die kritische Marke gerutscht ist. Der Lockdown - der offiziell
noch bis Mittwochnacht weiter gelaufen wäre - hätte wohl ohnehin ein
Ende gehabt. So haben die Menschen ihre begrenzte Freiheit etwas
früher wieder gewonnen. Denn mit mehr als zehn Menschen darf man sich
draußen weiter nicht treffen. So wie in ganz NRW auch.

Die Region, das Land, die ganze Welt ist eben noch weit entfernt vom
Normalzustand. Das «Verve Kaffee» in der Fußgängerzone spürt tä
glich
nur eine ganz leichte Verbesserung. Am Käsestand von Andrea Heese ist
ebenfalls nicht viel los. «Erst der erste Lockdown, dann der zweite
und jetzt Ferien», fasst sie die Abfolge in den vergangenen
Monaten zusammen. Das sei schon sehr hart fürs Geschäft. «Die
Stammkunden kommen, aber die Laufkundschaft bleibt aus.»

«Die kaufen doch eh alle bald wieder bei Tönnies ein», mischt sich
Rentner Klaus Ziegler ins Gespräch ein. «Die Angebote bei seinem
Werksverkauf sind unschlagbar, das weiß hier jeder in Gütersloh. Da
stehen bald alle wieder Schlange, ich auch», ist er sich sicher.
«Wenn die Familie grillen will, geht sie nicht in den Einzelhandel
und kauft teures Fleisch.» Auch er sagt: «Seit Jahren wussten hier
doch alle, wie die Arbeiter da wohnen.» Aber: «Jetzt tun alle
entsetzt!» Apropos Arbeiter: Die sind fast komplett weiter in
Quarantäne. Es gibt eben doch noch einen Lockdown. Für viele
Unterkünfte und das Tönnies-Werk, wenige Kilometer entfernt vom
Marktplatz in Gütersloh.