«Entgleisungen des Immunsystems» - Coronavirus kann den Darm lähmen

Covid-19 galt zunächst als Lungenkrankheit. Doch was geschieht bei
einer schweren Infektion im Körper? Warum sterben manche Patienten
daran? Tübinger Forscher haben die Leichen Verstorbener obduziert.

Tübingen (dpa/lsw) - Forschungen der Universitätsklinik Tübingen
weisen auf eine Überreaktion des Immunsystems als Ursache für
besonders schwere Covid-19-Erkrankungen hin. Diese verlaufe
schubweise und führe zu Gefäßschäden, Thrombosen und
Blutgerinnungsstörungen, sagte der Pathologe Hans Bösmüller der
Deutschen Presse-Agentur. Er sprach von einer «Entgleisung des
Immunsystems». Zuvor hatte der SWR berichtet.

Bösmüller hat seit Ausbruch des Coronavirus die Körper von elf
Menschen obduziert, die an einer Sars-CoV-2-Infektion gestorben sind.
Die Patienten waren zwischen 18 und 89 Jahren alt und hatten zum
großen Teil Vorerkrankungen.

Er hat Beeinträchtigungen vor allem in den Lungen der Verstorbenen
festgestellt. Einerseits waren Gefäße beschädigt und undicht. Dadurch

ergießt sich das Eiweiß Fibrin, das auch bei Schürfwunden als zähe,

gelbe Flüssigkeit zu sehen ist, in die Lunge und behindert den
Gasaustausch über die Lungenbläschen. Ebenso tauchten
Gerinnungsstörungen in der Lunge auf. Dabei wird das Blut fest und
die betroffenen Gewebeteile der Lunge sterben ab. Folge: «Der Mensch
kann nicht mehr ausreichend atmen», sagt der Pathologe.

Seiner Erkenntnis nach können diese Blutgerinnsel nach einer
Corona-Infektion auch in anderen Organregionen auftreten,
beispielsweise im Darm. Das wiederum kann zur Darmlähmung und einem
tödlichen Kreislaufschock führen. Ebenso können bei einer Genesung
überall im Körper Schäden durch solche Gerinnungsstörungen
zurückbleiben: neben Atemschwierigkeiten etwa Probleme bei der
Wundheilung. Entstehen Gerinnsel in den Arterien von Händen und
Fingern, könnten auch Teilamputationen notwendig werden.

Bösmüller zufolge könnten diese Schäden in Lungen und anderen Organ
en
durch eine krankhafte Immunantwort entstehen. Patienten, die schwer
an Covid-19 erkrankt seien, hätten zwar Antikörper gebildet.
Möglicherweise weil das Zusammenspiel mit dem sogenannten
Komplementsystem aus dem Ruder laufe, könnten ihre Körper sie aber
nicht anwenden. Das Komplementsystem ist ein Teil des Immunsystems,
der bei Infekten die Immunantwort des Körpers kontrolliert.

«Warum das bei manchen Menschen geschieht und bei manchen nicht,
wissen wir nicht», sagt Bösmüller. Jüngsten Erkenntnissen zufolge
könnte die Blutgruppe ein Faktor sein. Einem internationalen
Forscherteam um den Molekularbiologen Andre Franke von der
Universität Kiel zufolge haben Menschen mit der in Deutschland
häufigsten Blutgruppe A ein höheres Risiko für einen schweren
Infektionsverlauf als solche mit anderen Blutgruppen.

Bösmüller selbst war Ende Februar einer der ersten Menschen in
Baden-Württemberg, die positiv auf das Coronavirus getestet wurden.
Er hatte kaum Symptome und ist Blutgruppe 0. Folgen der Infektion
spürt er nicht. «Diejenigen, die ihre Erkrankung kaum gespürt haben
,
leiden nach bisheriger Kenntnis auch kaum an Nacherkrankungen.»