Erneut großer Corona-Ausbruch in Fleischfabrik - Virus trifft Ärmere Von Florentine Dame, Gisela Gross und Gregor Tholl dpa

Das Coronavirus greift nach den allgemeinen Lockerungen noch einmal
um sich. Jetzt traf es Deutschlands größten Schlachtbetrieb in
Westfalen. Auch mit Blick auf den Wohnblock in Berlin-Neukölln gibt
es im Vergleich zu den vergangenen Monaten nun aber Besonderheiten.

Rheda-Wiedenbrück/Berlin (dpa) - Mit mindestens 657 Infizierten gibt
es erneut einen folgenreichen Corona-Ausbruch in einer deutschen
Fleischfabrik. Die Produktion in dem Schlachtbetrieb in Westfalen
wurde vorübergehend eingestellt, der Kreis Gütersloh schließt Schulen

und Kitas und stellt gut 7000 Menschen unter Quarantäne. In
Berlin-Neukölln stieg währenddessen die Zahl der Infizierten in den
Wohnblöcken, die unter Quarantäne gestellt sind: Inzwischen seien 70
Fälle bekannt, sagte der Bezirksbürgermeister. Sowohl in NRW als auch
in Berlin treffe es ärmere Familien, die beengt und abgeschottet
wohnten, stellte ein Berliner Gesundheitsamtsleiter eine Parallele
her.

Der neue Ausbruch im Schlachtbetrieb trifft mit Tönnies einen
Branchenriesen. Deutschlands Marktführer bei der Schlachtung von
Schweinen muss seinen Hauptproduktionsbetrieb in Rheda-Wiedenbrück
herunterfahren. Der zuständige Landrat Sven-Georg Adenauer geht davon
aus, dass der Produktionsstopp zwischen 10 bis 14 Tagen dauern wird.
Für den gesamten Kreis will Adenauer einen allgemeinen Lockdown
verhindern, obwohl die wichtige Marke von 50 Neuinfektionen pro
100 000 Einwohnern in sieben Tagen deutlich überschritten sei.

Tönnies-Sprecher André Vielstädte wandte sich im Namen der Eigentüm
er
an die Öffentlichkeit: «Wir möchten uns bei der Bevölkerung des
Kreises im Namen der Familie Tönnies entschuldigen. Wir werden alles
dafür tun, das Virus aus dem Betrieb zu bekommen, um wieder
arbeitsfähig zu werden.»

Auch für die Region wird das sich rasant entwickelnde
Infektionsgeschehen in der Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück
Auswirkungen haben: Der Kreis Gütersloh kündigte an, alle Schulen und

Kitas bis zu den Sommerferien, die in Nordrhein-Westfalen am 29. Juni
starten, wieder zu schließen. Durch diesen Schritt solle eine
Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung vermieden werden.

Corona-Ausbrüche in Schlachthöfen machten in den vergangenen Monaten
immer wieder Schlagzeilen und lösten eine Debatte über die Missstände

bei Arbeits- und Unterbringungsbedingungen der häufig aus Osteuropa
stammenden Beschäftigen aus. Im Kreis Coesfeld wurde ein Betrieb
zeitweise geschlossen. Laumann kündigte am Mittwoch an, erneut
nrw-weit alle Schlachthofbelegschaften mit Werkvertragsarbeitern auf
das Virus testen zu lassen. Danach wisse man, ob es sich bei dem
Ausbruch um eine Ausnahme handle.

Clemens Tönnies, geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens,

hatte sich vor Wochen nach einem Virus-Ausbruch beim Konkurrenten
Westfleisch gegen den Generalverdacht gegen die Branche gewehrt.
Seine Firma war zunächst nur mit einzelnen Infizierten aufgefallen.

Gereon Schulze Althoff, Leiter des Pandemiestabs bei Tönnies, nannte
die Kälte in der Produktion und die Heimreisen der Beschäftigten an
den langen Wochenenden an Pfingsten und Fronleichnam nach Osteuropa
als mögliche Faktoren für die Ausbreitung des Coronavirus.

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagte auf die Frage, was
der Corona-Ausbruch bei Tönnies über die bisherigen Lockerungen
aussage: «Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und
Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. (...) Das hat
nichts mit Lockerungen zu tun, sondern mit der Unterbringung von
Menschen in Unterkünften und Arbeitsbedingungen in Betrieben.» Das
Beispiel zeige, «wie schnell» sich ein Virus verbreite, «wenn
Abstände nicht eingehalten werden, wenn Unterkünfte nicht in Ordnung
sind, und es warnt uns, immer nochmal ein zweites Mal hinzuschauen.»

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sagte nach dem Ende
der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin am Mittwochabend, man
müsse «endlich über die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser
Menschen reden».

Auch der Corona-Ausbruch in Berliner Wohnblöcken stellt aus Sicht
eines Berliner Amtsarztes eher kein Risiko für die Restbevölkerung
dar. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein berlinweites Problem entstehe,
sei «nicht besonders groß», sagte der Leiter des Gesundheitsamts
Reinickendorf, Patrick Larscheid, im RBB-Inforadio. Er stellte einen
Zusammenhang zu den Ausbrüchen in NRW her: Die Betroffenen hier wie
dort lebten so abgeschottet, dass das Virus wohl nicht überschwappe.
Die Gruppen seien arme, zum großen Teil auch bildungsferne Menschen,
die schwer zu schützen seien, meinte der Amtsarzt.

Die neue Corona-Warn-App, die beim Nachverfolgen der Kontakte helfen
soll, wertete Larscheid in Anbetracht des akuten Falls als «Spielzeug
für die digitale Oberschicht». Bei Gruppen wie den nun Betroffenen
könne man sich davon keine Vorteile erhoffen.

Abgesehen von den lokalen Ausbrüchen entwickelt sich das
Corona-Infektionsgeschehen in Deutschland laut Robert Koch-Institut
(RKI) weiterhin auf einem niedrigen Niveau.