Anspannung und Aggression: Die Coronakrise belastet die Psyche Von Ulrike von Leszczynski und Isabell Scheuplein, dpa

Seit mehr als einer Woche gibt es auch in Deutschland drastische
Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie. Kontrollverlust
und Mangel an Sozialkontakten machen Psychologen Sorge. Sie
befürchten mehr Gewalt und Suizide.

Berlin/Tübingen (dpa) - Kontaktverbote, Ausgehbeschränkungen,
geschlossene Kitas und Schulen: Die Corona-Pandemie hat den sozialen
Alltag in Deutschland seit mehr als einer Woche drastisch verändert.
Für jeden Einzelnen bedeute das eine Belastung, die insbesondere für
Menschen mit psychischen Erkrankungen auch gefährlich werden könne,
mahnen Experten. Der Begriff Corona-Ferien treffe die Lage nicht.

Die Tübinger Psychologin Ursula Gasch, spezialisiert auf Notfälle,
sieht die Lage für viele Menschen einengend: «Ich kann nicht mehr
bestimmen, wie ich mich bewege, mit wem ich mich in einem Raum
aufhalte. Das meiste ist jetzt vorbestimmt und geografisch
limitiert.» Dazu befänden sich Familien plötzlich in einem
ungewohnten und erzwungenem 24/7-Modus. Zugleich fehlten tägliche
Routinen und Ausweichmöglichkeiten. Dazu kommt die Sorge um die
eigene Gesundheit - nach Umfragen beschäftigt sie mehr als die Hälfte
der Bundesbürger.

«Diese Lage birgt Konfliktpotenzial», urteilt auch Iris Hauth,
Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Die
übliche Reaktion auf Angst in der menschlichen Entwicklung sei:
wegrennen oder kämpfen. «Das funktioniert hier aber beides nicht.»
Solche Situationen habe es bisher kaum gegeben. «Da haben wir auch
keine Bewältigungsstrategien.»

In Krisenplänen müsse deshalb unbedingt auch die psychische Belastung
der Bevölkerung berücksichtigt werden, fordert Hauth. «Es geht um
zeitnahe Angebote. Diese Pandemie ist nicht in drei Wochen
abgehandelt.» Erfahrungen aus der chinesische Stadt Wuhan zeigten,
dass dabei Krisentelefone helfen können. Tausende hätten dort
angerufen.

Die Berliner Seniorenhotline Silbernetz registriere jetzt schon viel
mehr Anrufe, sagt Initiatorin Elke Schilling. An einzelnen Tagen
wollten fünfmal mehr Menschen reden als früher. Die Kapazitäten
würden nun aufgestockt. Unter den Ratsuchenden seien mehr fitte und
jüngere Senioren und auch mehr Männer als zuvor. Die Hauptthemen?
«Die Unberechenbarkeit der weiteren Entwicklung und die Angst, selbst
mit dem Coronavirus infiziert zu sein», antwortet Schilling.

Fachleute müssten sich darauf einstellen, dass sowohl eine Welle von
Gesunden kommen werde, die plötzlich behandlungsbedürftige Ängste
habe, sagt Psychiaterin Hauth. Dazu komme die Verschlechterung der
Symptomatik von bereits psychisch Erkrankten. Diese zweite Gruppe
benötige ein noch fester geknüpftes Hilfenetz.

Kurz und mittelfristig könne die Lage zu Angst und Schlafstörungen,
aber auch zu Langeweile, Einsamkeit und Depression mit Gefühlen der
Ausweglosigkeit führen, meint Psychologin Gasch. Wut, Ärger,
Frustration und Verunsicherung böten Potenzial für Aggressionen und
Suchtmittelmissbrauch - zu viel Alkohol oder Schlaf-, Schmerz- und
Beruhigungsmittel.

In der Berliner Gewaltschutzambulanz befürchten Rechtsmediziner einen
starken Anstieg von Kindesmisshandlungen. «Die soziale Kontrolle ist
derzeit nicht da - der Bereich, wo sonst häusliche Gewalt gegen
Kinder auffällt, also in Schulen, Kitas oder bei Tagesmüttern, ist ja
gerade weggefallen», sagt Vizechefin Saskia Etzold. Bei
eingeschränkter Öffentlichkeit würden Verletzungen jetzt weniger
bemerkt. «Wir müssen wohl davon ausgehen, dass innerfamiliäre Gewalt

in den nächsten Wochen deutlich ansteigt», ergänzt die Ärztin.

«Wir stellen uns in dieser Zeit darauf ein, dass Straftaten der
häuslichen Gewalt deutlich zunehmen werden», sagt auch Berlins
Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne). Das zeigten auch Erfahrungen aus
China und Italien. Psychologin Gasch hält die Sorge für berechtigt.
Häusliche Gewalt werde zunehmen. «Da, wo dies ohnehin schon der Fall
ist, kann es jetzt lebensbedrohlich werden für Betroffene», sagt sie.
Sich Hilfe zu suchen, sei derzeit besonders schwierig.

Für Menschen mit psychischen Problemen sei die momentane Anspannung
schwerer zu bewältigen als für andere, betont Psychiaterin Hauth.
«Sie sind stressempfindlicher und bekommen möglicherweise mehr
Symptome - also auch mehr Angst, mehr Panik und Depressionen.» Auch
im Sinne der Suizidprävention sei derzeit viel Achtsamkeit gefragt.

Nach Zahlen der Fachgesellschaft DGPPN werden in Deutschland pro
Quartal 2,5 Millionen gesetzlich Versicherte bei Fachärzten für
Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenheilkunde behandelt. Viele
Kliniken und Praxen hätten bereits alternative und innovative
Behandlungsmethoden wie Telefon- und Videosprechstunden sowie
Online-Interventionen in Behandlung und Therapie aufgenommen.

Auch die Stiftung Deutsche Depressionshilfe hält Ängste und
Einschränkungen, die mit dem Coronavirus verbundenen sind, für eine
große Herausforderung für Betroffene. Die Stiftung bietet digitale
Hilfsangebote auf ihrer Homepage.

Mehr im Fokus wünscht sich Psychologin Gasch auch Beschäftigte im
Gesundheitswesen. Die Corona-Krise könnte sie an Grenzen bringen.
Reichen zum Beispiel Intensivbetten für Covid-19-Patienten in
Deutschland nicht aus, kommen auf Mediziner Entscheidungen zu, die
sie so kaum kennen. Im Hotspot Italien, wo zuletzt 1000 Menschen am
Tag an Covid-19 starben, brauchten viele Ärzte und das Pflegepersonal
psychologische Unterstützung, um weiterarbeiten zu können.