NRW-Epidemie-Novelle: Staatlicher Übergriff oder Notfallvorsorge? Von Bettina Grönewald, dpa

Die Corona-Pandemie macht vielen Menschen Angst - die zunehmende
Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten allerdings auch. In
NRW sorgt ein Vorstoß der Landesregierung für reichlich
Widerstand: Plant Ministerpräsident Laschet ein «Notstandsgesetz»?


Düsseldorf/Aachen (dpa/lnw) - Zwangsverpflichtete Ärzte, staatlich
beschlagnahmtes Medizin-Material, ausgesetzte Prüfungen an Schulen
und Unis - droht ein Corona-Notstandsgesetz für Nordrhein-Westfalen?
«Nein, das ist ein Handlungsgesetz für bestimmte Felder», wiegelt
Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) ab. Am Montag muss der
CDU-Politiker hohe Wogen glätten, die sein neuer Gesetzentwurf zur
Bewältigung der Corona-Krise aufgeworfen hat.

Maximale Vorsorge für den Fall einer schlimmen Ausbreitung der
Epidemie oder ein übertriebener Eingriff in Grundrechte der Bürger -
die Einordnungen der überraschend vorgelegten Novelle gehen weit
auseinander. Hauptkritikpunkt von Ärztefunktionären und
Verfassungsrechtlern: Ausgerechnet die massivsten Eingriffe sind im
Entwurf nicht mit einer Befristung versehen. Der gesamte Gesetzestext
enthält keine sogenannte Revisionsklausel, um die Neuregelungen zu
einem fixen Zeitpunkt wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Laschet will das Gesetz am liebsten schon am Mittwoch «möglichst
parteiübergreifend» durch den Düsseldorfer Landtag bringen. SPD und
Grüne möchten ihre Hände aber nicht für Grundrechtseinschränkunge
n im
Eilverfahren heben. «Wir sind in einer Gesundheitskrise und nicht
Demokratiekrise», betont Oppositionsführer Thomas Kutschaty.

Auch der Münsteraner Rechtswissenschaftler Janbernd Oebbecke hat
Zweifel an der Verfassungsfestigkeit des geplanten Epidemie-Gesetzes.
«Bauchschmerzen» habe er vor allem bei den Zwangsverpflichtungen für

das Personal und wegen der fehlenden Befristungen, sagt der
Staatsrechtler der Deutschen Presse-Agentur in Düsseldorf. Dies sei
«demokratisch problematisch».

In Artikel 19 des Grundgesetzes heißt es: «In keinem Falle darf ein
Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.» Artikel 12
verankert zudem das Grundrecht auf freie Berufswahl. «Niemand darf zu
einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer
herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen
Dienstleistungspflicht», heißt es dort. Ob diese Ausnahme auf die
Corona-Krise anwendbar sei, sei zumindest fraglich, meint der
emeritierte Rechtsprofessor.

Der Gesetzentwurf tangiert auch den Datenschutz: Hilfs- und
Wohlfahrtsorganisationen sollen verpflichtet werden können, Daten
über medizinisch oder pflegerisch einsetzbare Mitglieder zu
übermitteln. Die Berechtigung auf medizinisches Material zugreifen zu
können, sei «Ausdruck der Sozialbindung des Eigentums», heißt es in

der ungewöhnlichen Vorlage der schwarz-gelben Regierung.

Trotz des drastischen Instrumentariums sichern Ärztefunktionäre ihre
uneingeschränkte Kooperationsbereitschaft zu. Hinter den Kulissen
brodelt es aber, wie aus den Reihen der Praktiker zu hören ist. Viele
Ärzte, die in den vergangenen Wochen weit über das Normalmaß gegen
die Corona-Pandemie angearbeitet hätten, fühlen sich demnach durch
die angedrohte Zwangsverpflichtung düpiert.

Der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, formuliert
diplomatisch: «Die Ärzteschaft unterstützt alle notwendigen Maßnahm
en
der Landesregierung zur Pandemiebekämpfung. Eine Zwangsverpflichtung
von Ärztinnen und Ärzten ist nicht notwendig, weil die Kollegenschaft
ohnehin eine überwältigende Bereitschaft zeigt, alles
Menschenmögliche zur Pandemiebekämpfung zu tun.»

Ähnlich äußert sich der Präsident der Ärztekammer Westfalen Lippe
,
Johannes Albert Gehle. Schon jetzt hätten sich im Bereich der Kammer
1000 Ärzte freiwillig gemeldet, um im Kampf gegen Corona zu helfen.
Die neue Rechtsgrundlage sei hilfreich, um an den Krisenherden
unbürokratisch einzuspringen, argumentiert der Facharzt für
Anästhesiologie und Innere Medizin.

Dass mit dem Gesetz auch Urlaube von Ärzten im Notfall kassiert
werden könnten, schockt den Kammerpräsidenten nicht. «Ich kann mir
nicht vorstellen, dass jetzt jemand fröhlich pfeifend in den Urlaub
fährt - wohin auch.» Es müsse auch kein Patient befürchten, dass
infolge möglicher Verpflichtungen nicht hinreichend qualifizierte
Ärzte auf den Intensivstationen eingesetzt würden, versichert er.

Laschet gibt sich optimistisch, nach dem 25 Milliarden Euro
umfassenden Rettungsschirm auch noch die Rechtsgrundlagen für den
medizinischen Extremfall durch den Landtag zu bringen. Alle
verfassungsrechtlichen Bedenken würden ausgeräumt und erörtert,
betonte er in Aachen.

Nur «in allerschlimmsten Notfällen» wäre es dann möglich, etwa ei
nen
Schönheitschirurgen auf das das medizinisch Notwendigste zu
verpflichten, erklärt er. Für diesen «Fall X» müssten die
Rechtsgrundlagen dann aber schon da sein.

Es gehe darum, im Notfall die beste medizinische Betreuung für jeden
sicherstellen zu können und «Zustände wie in Bergamo bei uns zu
verhindern», wirbt Laschet für seinen Vorstoß. «Das ist das Ziel al
l'
unseres Strebens.»

Einen ersten Hinweis, wie weit der Staat dabei gehen darf, könnten in
dieser Woche die Richter am Oberverwaltungsgericht in Münster geben:
Dort wird eine Entscheidung über die Klage eines Aacheners gegen das
von der Landesregierung erlassene Kontaktverbot erwartet.