Coronavirus: Schlittert Großbritannien kopflos in die Krise? Von Christoph Meyer, dpa

Während auf Großbritannien die größte Bewährungsprobe seit dem
Zweiten Weltkrieg zukommt, ist der an Covid-19 erkrankte
Premierminister ein Gefangener in seiner Dienstwohnung. Hat Boris
Johnson das Coronavirus auf die leichte Schulter genommen?

London (dpa) - «Es wird schlimmer, bevor es besser wird»: Mit einem
eindringlichen Appell, die Abstandsregeln der Regierung zu befolgen,
hat sich der an Covid-19 erkrankte britische Premierminister Boris
Johnson am Wochenende per Brief an sein Volk gewandt. Der 55-Jährige
hatte am Freitag mitgeteilt, dass er positiv auf das Coronavirus
getestet wurde. Nun sitzt er in Isolation in seiner Dienstwohnung in
der Londoner Downing Street.

Der Brief soll an 30 Millionen Haushalte verschickt werden. Doch es
ist fraglich, ob Johnson damit den Eindruck wegwischen kann, die
Gefahr der Coronavirus-Pandemie unterschätzt zu haben - politisch wie
persönlich.

Neben Johnson ist auch Gesundheitsminister Matt Hancock infiziert. Er
musste ebenfalls in Isolation gehen. Und auch der oberste
medizinische Berater der Regierung, Chris Whitty, begab sich
vorsorglich in selbst auferlegte Quarantäne. Es waren vor allem diese
drei, die die britische Öffentlichkeit über die Folgen der
Coronavirus-Pandemie unterrichtet hatten.

In London geht nun die Sorge um, dass die Entscheidungsfähigkeit der
Regierung beeinträchtigt sein könnte, sollten noch weitere
Kabinettsmitglieder infiziert sein. Vorsorgliche Tests weiterer
Minister und Mitarbeiter soll es aber zunächst nicht geben. «Alle
folgen dem Rat der Gesundheitsbehörde», sagte ein
Downing-Street-Sprecher der Deutschen Presse-Agentur. Der lautet:
sich in Selbstisolation zu begeben, sobald Symptome auftreten.

Sollte Johnson krankheitsbedingt komplett ausfallen, würde Berichten
zufolge Außenminister Dominic Raab die Leitung der Regierung
übernehmen. Es gibt jedoch Zweifel daran, ob er der Aufgabe gewachsen
ist. Spekuliert wird daher bereits, dass Staatsminister Michael Gove
oder Schatzkanzler Rishi Sunak einspringen könnten.

Johnson hatte noch Anfang März geprahlt, er habe Menschen in einem
Krankenhaus, darunter Covid-19-Patienten, die Hand geschüttelt und
werde dies weiterhin tun. Die Maßnahmen der Regierung beschränkten
sich zu diesem Zeitpunkt auf den Ratschlag, sich häufig und gründlich
die Hände zu waschen. Johnson hatte sich selbst dabei vom
BBC-Fernsehen filmen lassen. Er sah dabei, wie häufig bei
alltäglichen Tätigkeiten, eher unbeholfen aus.

Bei Bekanntgabe seiner Infektion betonte er, dass er nur «milde
Symptome» hab. Unklar ist, ob sich auch seine schwangere Verlobte
Carrie Symonds angesteckt hat. Das Baby soll im Frühsommer auf die
Welt kommen. Johnson ist zweimal geschieden. Seit Amtsübernahme im
vergangenen Juli wohnt er mit der über 20 Jahre jüngeren
Ex-Medienberaterin der Konservativen Partei in der Downing Street.
Von ihr muss er sich nun fernhalten. Essen und Dokumente werden dem
Premierminister Berichten zufolge vor die Tür gelegt.

John Ashton, ein ehemaliger Regionaldirektor des Nationalen
Gesundheitsdiensts NHS, warf der Regierung Trägheit vor. Das gelte
sowohl für die Maßnahmen im Land als auch für deren persönliches
Verhalten. Beides sei «zu langsam» gewesen. Die Zahl der Toten stieg
am Sonntag auf 1228.

Der Premierminister hatte erst am vergangenen Montag, nach langem
Zögern, eine Ausgangssperre verhängt. Johnson rief seine Landsleute
dazu auf, das Haus nur noch zu verlassen, wenn dies unbedingt nötig
sei. Er selbst stellte sich noch am Mittwoch im beengten Parlament
den Fragen von Abgeordneten. «Ich war überrascht, dass die
Fragestunde abgehalten wurde - es war eindeutig unnötig», sagte
Ashton der Zeitung «The Guardian».

Die «Financial Times» zitierte ein Kabinettsmitglied mit dem Vorwurf,
einige Minister seien «sehr zögerlich» gewesen, die eigenen
Ratschläge zur sozialen Distanz in die Praxis umzusetzen. Ein
Regierungsmitglied beschwerte sich der Zeitung zufolge, der Nationale
Sicherheitsrat habe noch bis vor wenigen Tagen «zusammengepfercht» in
einem abhörsicheren Sitzungsraum getagt.

In London, Manchester und Birmingham wurden unterdessen begonnen,
Konferenzzentren zu temporären Krankenhäusern umzubauen. Allein im
Excel-Centre der Hauptstadt sollen 4000 Patienten behandelt werden
können. Die Regierung kündigte zudem an, die Kapazitäten für Tests

erheblich zu erweitern. Bislang wurden erst rund 128 000 Menschen auf
das Coronavirus getestet - weit weniger als in Deutschland. Vor allem
Krankenhausmitarbeiter sollen nun großflächig mit einem neu
entwickelten Verfahren auf Antigene getestet werden.

Die für die Behandlung von Covid-19-Patienten dringend benötigten
Beatmungsgeräte soll unter anderem das Unternehmen Dyson herstellen,
das vor allem für Staubsauger bekannt ist. Die Regierung bestellte 10
000 Apparate. Wann sie einsatzbereit sein werden, ist noch unklar.
Bislang stehen gerade einmal 8000 Geräte zur Verfügung. Weitere 5000
sollen in den kommenden Wochen hinzukommen.

Doch das dürfte bei Weitem nicht ausreichen. Auf dem Höhepunkt der
Pandemie, der in etwa drei Wochen erwartet wird, rechnet die
Regierung einem BBC-Bericht zufolge mit einem Bedarf von 30 000
Geräten. Trotzdem nimmt Großbritannien an einem Beschaffungsverfahren
der EU nicht teil - angeblich wegen Kommunikationsproblemen. Johnson
soll bei einem Telefongespräch mit US-Präsident Donald Trump am
Freitag um Hilfe gebeten haben. Trump berichtete, noch vor der
Begrüßung habe der britische Premier gesagt: «Wir brauchen
Beatmungsgeräte.»