«Wovon soll ich jetzt abspannen?»: Neururer gegen Corona-Langeweile Von Nils Bastek  und Rolf Vennenbernd , dpa

Peter Neururer hasst Langeweile. Die Einschränkung seines Lebens
durch die Corona-Krise macht den ehemaligen Bundesligatrainer zum
Teil «wahnsinnig». Wie kriegt so jemand im Moment seine Zeit rum?

Gelsenkirchen (dpa) - An einem sonnigen Tag in diesem ungewöhnlichen
März steht Peter Neururer mit einem Golfschläger in seinem Garten.
Zum roten Pulli trägt er eine graue Jogginghose, kein klassisches
Golfer-Outfit, aber sportlich leger. Er visiert eine Art umgedrehten
Regenschirm vor einem von Efeu überwucherten Holzschuppen an.
Neururer geht auf Spannung, den Hintern leicht hinaus gestreckt, dann
schlägt er. «Treffer», murmelt der 64-Jährige, als der erste Ball
gleich im Schirm landet. Der zweite Schlag? «Zu kurz.» Der dritte?
«Treffer!» Zwei von drei. Neururer dreht sich um, er streckt die Arme
zur Siegerpose aus. «Das ist 'ne Quote wie Tiger Woods!» Er lächelt.


Es gibt ja den alten Spruch, dass Not erfinderisch macht, also hat
Peter Neururer sich einen Golfschirm in den Garten gelegt. Denn
gewissermaßen befindet sich Neururer gerade in Not. Es geht ihm und
seiner Ehefrau Antje nicht anders als etlichen Menschen auf der
ganzen Welt, deren Leben aufgrund der Corona-Pandemie derzeit stark
eingeschränkt ist. Aber Neururer kann schon im «normalen» Leben ganz

schlecht mit Langeweile umgehen. Nach zweieinhalb Jahren ohne
Trainerjob stresste ihn das Nichtstun im Frühjahr 2012 so sehr, dass
er auch deswegen einen Herzinfarkt erlitt, wie er später erzählte.
Mittlerweile ist Neururer seit über fünf Jahren ohne Trainerjob.

Jetzt kommt auch noch Corona hinzu. Und nun? «Mich macht das in An-
und Abführung wahnsinnig», erzählt er am Morgen vor dem Golfspiel. Er

ist per Videotelefonat zugeschaltet. Neururer hockt mit einem dunklen
Bademantel in der Küche seines Hauses in Gelsenkirchen. Im dichten
Schnauzer sind ein paar graue Haare zu erkennen. Seine Frau sitzt
neben ihm. Ob er ihr schon auf den Geist geht? «Kann man wohl sagen»,
sagt sie. «Ich bin sicher nicht der umgänglichste Mensch in der Zeit,
in der ich nichts zu tun habe», sagt er. Jetzt ruhen auch noch seine
TV- und Werbeverträge, weil sie alle mehr oder weniger mit Fußball zu
tun haben. Viel bleibt ihm derzeit nicht.

Aber Neururer beschwert sich nicht darüber. Er weiß, dass viele
Menschen deutlich schlechter dran sind als er. Während seiner Jahre
als Trainer hat er einiges an Geld auf die Seite gelegt. Davon leben
er und seine Frau jetzt. Davon füllt sich aber auch der
Terminkalender nicht. Neururer hätte schon längst in den Trainer-
Ruhestand gehen können. Stattdessen führt er nun einen Kampf an zwei
Fronten. Gegen die Langeweile. Und um die Rückkehr auf die
Trainerbank, um Aufmerksamkeit und Anerkennung. Er hat nie ein
Geheimnis darum gemacht, wie sehr ihm die Arbeit als Trainer fehlt.

Um die Mittagszeit tauscht er den Bademantel gegen eine
Motorradkluft. Er trägt jetzt ein Lederoutfit, an den Ärmeln seiner
Jacke baumeln schwarze Fransen im Wind. Mit dem Helm in
US-Nationalfarben sieht er aus wie ein Easy Rider aus dem
gleichnamigen Kultfilm aus den 60er-Jahren. Einige seiner Nachbarn
schauen streng, als Neururer den Motor seiner Harley Davidson vor der
Garage laut aufheulen lässt. Er grinst. Sein Mittagsritual steht an,
ein paar Stunden fährt er nun mit der Maschine durch die Gegend.
«Normal gehe ich auf die Harley, um abzuspannen. Nur wovon soll ich
jetzt abspannen?» Kurz danach düst er los. Einige Nachbarn schauen
noch immer streng.

Er kommt vorbei an seinem Golfclub um die Ecke, an einem Platz, «in
dem keine Fahnen mehr stecken». Auf dem satten Grün erkenne er
momentan oft weit und breit keinen Menschen, sagt er. An normalen
Tagen begegnet er dort anderen ehemaligen Fußballern wie den
Ex-Nationalspielern Erwin Kremers oder Olaf Thon, die ebenfalls im
Club sind. Ein paar Stunden lassen sich dann auf dem Golfplatz
totschlagen. Jetzt kann er nur mit seiner Harley vorbeidüsen.
Eigentlich hat Neururer auch ohne den Golfplatz fast alles, was man
für ein angenehmes Leben im gehobenen Alter braucht. Ein Haus mit
Kraftraum, einen Garten, ein Auto und Motorrad. Aber er will etwas
anderes.

Als Trainer war es Peter Neururer gewohnt, permanent in Bewegung zu
sein. Der VfL Bochum war der einzige Club in seiner Karriere, bei dem
er länger als zwei Jahre Trainer war. Er hatte sich schon früh den
Ruf eines Feuerwehrmanns erarbeitet. Geriet ein Club in Not, dachte
man nicht selten an Neururer. 13 verschiedene Profi-Teams hat
Neururer bereits trainiert, einige davon rettete er vor dem Abstieg.
Aber seit einigen Jahren gibt es kaum noch Verwendung für
Feuerwehrmänner wie ihn. Spätestens nach dem Herzinfarkt schien ein
Comeback auf der Trainerbank sich erledigt zu haben - bis der VfL ihn
ein Jahr später tatsächlich noch einmal verpflichtete.

«Ich war nie weg», sagte er damals bei seiner Vorstellung. Und er ist
es auch jetzt nicht. Wenn es noch eine zweite Sache gibt, die
Neururer genauso wenig ausstehen kann wie die Langeweile, dann ist es
die Stille. Ein Karriereende kommt für ihn nicht infrage, und wenn
ihn gerade schon kein Club als Trainer will, dann soll es wenigstens
anderweitig dröhnen.

Neururer lieferte nicht nur als TV-Experte markige Sprüche am
Fließband, sondern auch zuletzt während eines kurzen Intermezzos als
Sportdirektor der SG Wattenscheid 09. Der mittlerweile insolvente
Club sei auf einem Lügengerüst aufgebaut, polterte er. Aber:
«Wattenscheid kann mich nicht so sehr schocken, dass ich aufhöre.»

Nach der Runde auf dem Motorrad geht er mit seiner Frau nochmal in
den Garten. Das Wetter ist nach wie vor herrlich, keine Wolke steht
am Himmel, trotzdem liegt der Garten im Schatten, weil er von hohen
Tannen umgeben ist. Neururer und seine Frau spielen sich jetzt mit
ihren Golfschlägern gegenseitig Bälle zu, das ist momentan so eine
Art Nachmittagsritual. «Das Schlimmste ist eigentlich, dass wir vor
einem Monat Oma und Opa geworden sind und unser Enkelkind derzeit nur
per Facetime sehen können», seufzt er. Aber auch diese Phase wird
Peter Neururer ziemlich sicher überstehen.

Schon nach dem Herzinfarkt hatten ihm nur die Wenigsten ein Comeback
zugetraut. Plötzlich war er trotzdem wieder da. Vielleicht kommt es
bald wieder so, in einer Zeit nach dem Coronavirus. Bis es so weit
ist, lernt Peter Neururer Spanisch. Das sei eine Idee seiner Frau
gewesen, erzählt er. Zwischen Harley, Golf und Kraftraum waren
einfach noch zu viele Stunden frei. Und wenn der Sprachunterricht am
späten Nachmittag irgendwann vorbei ist? «Dann warte ich, dass es
wieder dunkel wird.»