«Hammer und Tanz» - Ein Experiment mit fast acht Milliarden Menschen Von Annett Stein, dpa

Fast 7,8 Milliarden Menschen leben auf der Erde. Selbst ein sehr
ansteckendes Virus braucht eine Weile, eine solche Population zu
erobern. Das streckt die für Gegenmaßnahmen nötige Zeitspanne auf
eine für Wirtschaft und Gesellschaft riskante Länge.

Berlin (dpa) - Experten hatten davor gewarnt. Seit Jahren immer
wieder. Nun ist er da, der nächste weltumspannende Seuchenerreger.
Und das mit solcher Macht, dass viele Staatschefs von einem «Krieg»
sprechen. Seit etwa drei Monaten breitet sich das neuartige
Coronavirus aus - und noch stehen wir am Anfang der Pandemie. «Wir
sind im Pandemie-Marathon bei Kilometer 2 von 42», sagt der Virologe
Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin
(BNITM) in Hamburg. «China ist etwa bei Kilometer 10.»

Der Anfang:

Anfang Dezember, vielleicht schon im November treten in der
chinesischen Millionenmetropole Wuhan erste Fälle einer bis dahin
unbekannten Lungenerkrankung auf. Die Betroffenen hielten sich zuvor
auf einem Tiermarkt auf, der seitdem als Ursprung des neuartigen
Coronavirus gilt. Erst am 31. Dezember werden die Fälle aus China
offiziell an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldet.

Am 9. Januar meldet China: Die Lungenkrankheit geht auf ein
neuartiges Coronavirus zurück. Am selben Tag stirbt ein 61-Jähriger,
der mit dem Virus infiziert ist - das erste offiziell erfasste
Todesopfer der Pandemie. Der neue Erreger gehöre derselben Virusart
an wie das Sars-Virus, es sei nur eine andere Variante, sagt der
Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité Mitte Januar -
damals kennen nur wenige Menschen den Mann, der rasch zur
dominierenden Expertenstimme in Deutschland wird.

Dass ein winziger Partikel menschliche Gesellschaften auszuhebeln
vermag, können viele noch immer kaum fassen. «Seuchen sind historisch
der Normalzustand», betont Karl-Heinz Leven vom Institut für
Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg.

Von regionalen Epidemien zur Pandemie:

Mitte Januar wird das Virus erstmals außerhalb Chinas nachgewiesen -
bei einer Frau in Thailand, die Wuhan besucht hatte. In Japan
infizieren sich Hunderte Menschen auf dem Kreuzfahrtschiff «Diamond
Princess». In Südkorea wird die Sekte Shincheonji-Kirche Jesu zu
einem Haupttreiber des Ausbruchs.

Europa erreicht das Virus Ende Januar: In Frankreich werden erste
Fälle erfasst, in Deutschland eine Infektion bei einem 33-Jährigen in
Bayern. Wahrscheinlich gibt es da schon viele unentdeckte Infektionen
- etwa in Italien, wo Ende Februar ein immenser Ausbruch seinen Lauf
nimmt. Auch Spanien ist eines der sehr stark betroffenen Länder.
Mitte März stuft die WHO den Ausbruch als Pandemie ein.

Die Strategie:

Kaum jemand hätte das Arsenal an Maßnahmen für möglich gehalten, mi
t
denen Staaten gegen die Ausbreitung des Virus vorgehen: Geschäfte,
Restaurants, Museen, Schulen, Kitas schließen. Ganze Belegschaften
wechseln ins Homeoffice, Produktionsketten kommen zum Erliegen.
Sportveranstaltungen - selbst die Olympischen Spiele - sind abgesagt.
Grenzen werden dicht gemacht, Sperrzonen eingerichtet,
Versammlungsverbote sowie Ausgangsbeschränkungen erlassen. Über 1,5
Milliarden Menschen weltweit dürfen derzeit ihr Heim kaum verlassen.

Gegenwärtig gelte die Strategie «Hammer und Tanz» in Fachkreisen als

effektivste, sagt Alena Buyx vom Institut für Geschichte und Ethik
der Medizin der TU München. Am Anfang stünden drastische Maßnahmen,
um den Anstieg zu verlangsamen. Anschließend folge der sogenannte
Tanz - eine Phase, in der man schrittweise zu normaleren
Verhaltensweisen zurückkehre.

Der Effekt von Maßnahmen werde jeweils nach 10 bis 14 Tagen bei den
Fallzahlen sichtbar, erläutert Schmidt-Chanasit. «Man wird als erstes
die Stellschrauben lockern, die entscheidend für die
Versorgungssicherheit sind.» Dazu zähle die Öffnung von Schulen und
Kitas. «Ganz ganz zum Schluss kommen der Fußball und andere
Spaßveranstaltungen.»

Das Zurückfahren des weltweiten Lockdowns könnte sich über lange Zeit

erstrecken. «Solange nicht ein großer Teil der Bevölkerung immun ist,

kann sich das Virus ja nach wie vor ausbreiten», sagt Mirjam
Kretzschmar von der Universitätsmedizin Utrecht. «Sobald die
Maßnahmen gelockert sind, geht die Reproduktionszahl wieder auf den
ursprünglichen Wert zurück und die Ausbreitung verläuft wie vor den
Maßnahmen. Das ändert sich erst, wenn ein substanzieller Teil der
Bevölkerung immun geworden ist.»

Die kommenden Wochen:

Die für ein natürliches Abflauen nötige Durchseuchung von 60 bis 70
Prozent der Bevölkerung werde nicht in diesem Jahr erreicht, sagt
Schmidt-Chanasit. Umso wichtiger ist, die medizinische Infrastruktur
rasch auszubauen - etwa mit mehr Intensivbetten und Beatmungsgeräten.
Denn die Strategie «Hammer und Tanz» mag vor einer Überlastung der
Gesundheitssysteme schützen, hat auf Dauer aber immense soziale und
ökonomische Folgen. Obwohl scharfe Maßnahmen wie Ausgangsverbote in
vielen Ländern erst seit Tagen gelten, mehren sich kritische Stimmen.
Die Rettung von Menschenleben geschehe zu einem hohen
wirtschaftlichen Preis, betonen Experten. Zudem könnten die Maßnahmen
an anderer Stelle Leben kosten.

Deutschland könnte die Corona-Krise nach Berechnungen des Münchner
Ifo-Instituts mehr als eine halbe Billion Euro und mehr als eine
Million Jobs kosten. «Die Kosten werden voraussichtlich alles
übersteigen, was aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der
letzten Jahrzehnte in Deutschland bekannt ist», so Ifo-Präsident
Clemens Fuest kürzlich.

Das wiederum könne die Zahl der Todesfälle im Zuge von Depressionen,
Verarmung, sozialen Verwerfungen, häuslicher Gewalt oder auch
Herzinfarkten steigen lassen, fürchten Experten. Auch die derzeit
aufgeschobenen OPs sind ein Faktor. «Die Maßnahmen gegen Corona
dürfen nicht mehr Menschenleben kosten als Corona selbst», so
Schmidt-Chanasit. «Da ist ein vernünftiges Augenmaß wichtig.»
Wann übersteigen die Schäden durch den Stillstand den Nutzen der
Maßnahmen? Wie viele gerettete Leben wiegen wie viel Wohlstand und
soziale Sicherheit auf? Ethisch eine unglaublich schwierige Frage.

Die Bundesregierung versucht angesichts des weiteren Anstiegs der
Fallzahlen energisch, die Debatte über eine Lockerung der
Abwehrmaßnahmen einzudämmen. Zu groß ist die Angst, die Menschen
könnten die gerade erst durchgesetzten Kontaktbeschränkungen zu
ignorieren beginnen. Kanzlerin Angela Merkel bat am Wochenende um
Geduld, auch eine Reihe ihrer Minister weist Forderungen zurück,
angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Belastungen möglichst
bald über einen Ausstieg aus den schärfsten Maßnahmen zu reden.

Die Welt danach:

Droht eine verheerende Rezession? Dass weltweit in so immensem Umfang
alles heruntergefahren werde im Kampf gegen eine Seuche, sei ein
historisch neuer Ansatz und daher kaum über Vergleiche zu bewerten,
sagt Leven. Es gebe aber sicher die Gefahr, dass man es mit Folgen
wie Massenarbeitslosigkeit und politischem Aufruhr zu tun bekomme.
«Derzeit zu sehende erfreuliche Formen der Solidarität werden nicht
die Regel sein», glaubt Leven. «Wir werden noch so einige
Überraschungen erleben, und überwiegend negative.»

Seuchenzeiten, so der Medizinhistoriker, seien immer auch ein Test
des politischen Systems gewesen, hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit
und des Vertrauens der Bürger in seine Handlungsfähigkeit. Historiker
seien gespaltener Ansicht, ob sich die Pandemie stabilisierend oder
destabilisierend auf die politische Ordnung auswirke, sagt Philipp
Osten vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Hamburger
Universitätsklinikum UKE.

Große Unterschiede seien zwischen reichen und armen Ländern zu
erwarten, so Osten. «Die Krankheit trifft hier bei uns auf eine
Gesellschaft, die wunderbar versorgt ist.» Das gelte sowohl für
Beatmungsgeräte und die Gesundheitsversorgung insgesamt als auch die
Sozialfürsorge. In armen Ländern führe Jobverlust zumeist direkt in
Existenznöte. Jede Pestepidemie habe einst automatisch eine hungernde
Bevölkerung bedeutet, so Leven. Das drohe nun in ärmeren Ländern.

Sicher vorhersagen lässt sich keine Entwicklung. «Eine Pandemie
beurteilen, in der man noch mittendrin steckt, das kann man nicht»,
betont Osten. Leven sagt: «Das Ganze ist ein Experiment, in das die
gesamte Weltbevölkerung einbezogen ist. Alles ist möglich.»