Churchill oder Chamberlain? Johnson in der Bewährungsprobe Von Christoph Meyer, dpa

In der Coronakrise fuhr London einen Schlingerkurs. Erst nach langem
Zögern schwenkte Premier Johnson auf den harten Kurs anderer Länder
ein. Kritiker fürchten, dass nun eine Katastrophe unabwendbar
geworden ist. Johnson dürfte daran gemessen werden.

London (dpa) - Großbritanniens Politik kommt kaum ohne Vergleiche aus
dem Zweiten Weltkrieg aus. Premierminister Boris Johnson bemüht diese
Rhetorik besonders gerne. Immer wieder inszenierte er sich im Ringen
um den Brexit als zweiter Winston Churchill - Brüssel musste hingegen
als Feindbild herhalten, dem man im Ringen um den EU-Austritt unter
keinen Umständen nur eine Handbreit nachgeben dürfe.

Doch Johnson hätte sich bis vor kurzem wohl kaum träumen lassen, dass
er mit der Coronavirus-Pandemie einer Herausforderung gegenüberstehen
würde wie seit Churchill kein britischer Premier mehr. Bislang fällt
seine Bilanz im Kampf gegen den unsichtbaren Feind durchwachsen aus.

Britische Medien warnen bereits, Johnson könne als zweiter
Chamberlain in die Geschichte eingehen. Kriegspremier Churchill, der
seine Landsleute mit der Forderung nach Blut, Schweiß und Tränen zum

Durchhalten beschwor, genießt in Großbritannien Heiligenstatus. Sein
Vorgänger Neville Chamberlain hingegen gilt als Inbegriff des
Versagers. Er hatte versucht, Hitlers Großmachtstreben durch
Zugeständnisse (Appeasement) einzuhegen - mit fatalen Folgen.

Seinen ersten überzeugenden Auftritt in der Coronakrise hatte Johnson
an diesem Montag, als er in einer Ansprache an die Nation weitgehende
Ausgangsbeschränkungen verkündete. Mit ernster Miene rief er die
Briten dazu auf, zuhause zu bleiben. «Von heute Abend an muss ich dem
britischen Volk eine einfache Anordnung geben: Sie müssen zuhause
bleiben.» Zuvor war er zwar beinahe täglich in Pressekonferenzen zu
sehen, doch seine flapsigen Auftritte, flankiert von
Gesundheitsexperten, stifteten mehr Verwirrung, als dass sie Klarheit
schufen.

Noch am Freitag hatte er vor laufender Kamera gesagt, er hoffe seine
Mutter zum britischen Muttertag am Sonntag sehen zu können. Tags
darauf rief er alle Briten auf, ihre Mütter bloß nicht zu besuchen.
Als er gefragt wurde, ob es eine Abschottung der besonders stark von
der Epidemie betroffenen Hauptstadt London geben werde, wollte er
nichts ausschließen - und löste damit wohl einen Exodus von Menschen
aus, die aus der Stadt flohen und das Virus womöglich in ländliche
Gebiete schleppten. Tags darauf versicherte ein Pressesprecher, es
gebe «null Aussicht» auf eine Abriegelung Londons.

Befremden löste auch Johnsons Zögern aus, schneller härtere Maßnahm
en
zu ergreifen, um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen. Der
wissenschaftliche Chefberater der Regierung, Patrick Vallance,
begründete das unter anderem mit der Hoffnung, eine rasche
Durchseuchung der Bevölkerung könne zu einer sogenannten
Herdenimmunität führen und die Epidemie damit zum Erliegen bringen.
Dabei hatten Kritiker schon früh gewarnt, ein solcher Ansatz könne
Zehn- wenn nicht Hunderttausende Menschen das Leben kosten.

Johnson betonte stets, er lasse sich von der Wissenschaft leiten.
Doch der Verdacht wuchs, die Regierung könne eine zynische Abwägung
zwischen dem Tod älterer und verletzlicher Menschen und dem Wohl der
Wirtschaft getroffen haben. Die Folgen davon hatte sie aber offenbar
massiv unterschätzt.

Britische Medien kramten Zitate Johnsons aus der Zeit hervor, als er
sich für den Posten des Rathauschefs in London beworben hatte. Sein
Held, sagte er damals, sei der Bürgermeister in dem Hollywood-Film
«Der weiße Hai», der der darauf bestand, die Strände geöffnet zu

lassen, um die Tourismusbranche nicht zu schädigen, obwohl der Hai
einen Badenden nach dem anderen auffraß. Was ihm dabei imponiert
habe, sei die Rationalität des Bürgermeisters gewesen, der sich nicht
von Hysterie habe leiten lassen, so Johnson. Obwohl sich die
Entscheidung später als falsch herausgestellt habe, wie er zugab.

Der «Sunday Times» und der «Financial Times» zufolge soll der
Johnson-Berater Dominic Cummings ein glühender Verfechter dieses
Ansatzes gewesen sein. Personen, die mit Cummings gesprochen hatten,
beschrieben dessen anfängliche Einstellung der «Sunday Times» zufolge

mit dem Satz: «Herdenimmunität, Wirtschaft schützen, auch wenn das
bedeutet, dass leider ein paar Rentner sterben.» Diese
Charakterisierung wurde von der Regierung später heftig
zurückgewiesen, doch auch andere Medien mit guten Kontakten in den
Regierungsapparat berichteten Ähnliches.

Cummings, der als Architekt der Siege Johnsons beim Brexit-Referendum
und der Parlamentswahl im Dezember gilt, hat im Regierungssitz
Downing Street Einfluss wie kaum ein anderer. Er vollzog den
Berichten nach später eine Kehrtwende, als ihm klar wurde, dass
tatsächlich hunderttausende Leben auf dem Spiel standen, und pochte
auf stärkere Maßnahmen, um das Virus einzudämmen. Doch er soll bei
Johnson damit zunächst auf taube Ohren gestoßen sein. Der Premier, so
hieß es, wollte keine unpopulären Ausgangsbeschränkungen verhängen,

um seiner Beliebtheit in der Bevölkerung nicht zu schaden. Außerdem
seien dem freiheitsliebenden Politiker derartige Maßnahmen zuwider.

Der ehemalige Gesundheitsminister und Johnson-Konkurrent um die
Tory-Parteiführung, Jeremy Hunt, warnte im Parlament: «Es könnte
sein, dass es schon zu spät ist, um (Verhältnisse wie in) Italien zu
verhindern». Er rechnet damit, dass in Großbritannien bereits 300 000
Menschen mit dem Virus infiziert sein könnten. Churchill oder
Chamberlain? Diese Frage könnte sich für Johnson bereits in wenigen
Wochen entscheiden.