Lernen dank Isolation: Zukunftsideen zur Welt nach Corona Von Carolin Eckenfels, dpa

Die Corona-Krise hat Deutschland fest im Griff. Doch was kommt
danach? Dazu gibt es erste Gedankenspiele von Trendforschern. Ihre
Botschaft: Es kommt auch auf unsere Lernbereitschaft an.

Frankfurt/Main (dpa) - Stellen wir uns vor, die Corona-Krise ist
überstanden. Die Menschen können wieder uneingeschränkt nach drauße
n
gehen und sich treffen. Werden wir uns zur Begrüßung noch die Hand
geben, uns umarmen? Räumen wir ohne weiteres unser Home-Office? Und
haben wir überhaupt noch Arbeit? Trendforscher machen sich bereits
Gedanken über die Welt nach dem Coronavirus. Sie sehen in der
Pandemie eine tiefgreifende Zäsur - entwerfen aber durchaus
ermutigende Zukunftsvisionen.

«Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten
mussten, selten zu Vereinsamung führten», sagt etwa Trendforscher und
Publizist Matthias Horx. Der Gründer des Zukunftsinstituts in
Frankfurt unternimmt auf seiner Webseite www.horx.com ein
Gedankenexperiment: Er stellt sich vor, es ist schon Herbst und
blickt von dieser Perspektive zurück auf unsere aktuelle Gegenwart
mitten in der Corona-Krise mit all ihren Unsicherheiten,
Einschränkungen und Kontaktverboten.

«Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus
erzwang, gleichzeitig neue Nähe», schreibt er. «Wir haben Menschen
kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte
Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose
und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher
gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.»

Horx überlegt weiter: «Wir staunen rückwärts, wie viel Humor und
Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist.»
Bei Fußballspielen im Herbst werde eine ganz andere Stimmung als noch
im Frühjahr herrschen, als es «jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien»
gegeben habe. Horx beschäftigt sich schon jetzt mit der
Post-Corona-Ära, weil die Pandemie nach seiner Ansicht ein
weltveränderndes Ereignis ist und wir nicht zur alten Normalität
zurückkehren werden. «Das eröffnet ein großes Fenster für
Zukunftsforscher», sagt er der Deutschen Presse-Agentur.

In den Sozialen Netzwerken finden die Überlegungen derzeit reichlich
Widerhall, aber auch ein geteiltes Echo über die Aussagekraft. Für
die einen sind es spannende Ideen, andere verweisen auf den
Unsicherheitsfaktor von Prognosen.

Der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner geht davon aus, dass wir
zwar vermutlich für einige Zeit Verhaltensänderungen pflegen werden
und etwa Begrüßungsformen verändern. Wie lange das anhalte, wisse
aber niemand, sagt der Professor. Er verweist darauf, dass es bislang
nur erste Überlegungen zu dem Thema gebe. «Ob es zu grundlegenden
Verhaltensänderungen kommt - wie zum Beispiel die stärkere Nutzung
von Home-Office, Verlangsamung oder größere Besinnlichkeit anstatt
ständiges beschleunigtes Vorankommen - wird stark davon abhängen, wie
und ob wir unseren Konsum und unsere Konsumerwartungen ändern oder
nicht - und ob sich die Wirtschaft nach der Krise neu aufstellt.»

Nach Angaben von Harry Gatterer, Geschäftsführer des
Zukunftsinstituts, sind mehrere Szenarien denkbar - die
pessimistische Vision: Nach der Corona-Krise begeben wir uns in die
«totale Isolation», die Menschen werden argwöhnisch, trauen anderen
weniger, Staaten und Gesellschaften schotten sich ab.

Die positivste Annahme: Die Welt geht gestärkt aus der Krise hervor.
Den Menschen gelingt die Adaption ans Neue, sie passen sich also an
und lernen, besser mit Veränderungen umzugehen und achtsamer
miteinander zu sein. Während der Zeit der Corona-Isolation müssen
sich die Menschen ja auf sich selbst besinnen, erläutert der
Trendforscher. Dadurch könnten sie einen Lerneffekt erleben. «Das
heißt, dass wir völlig neu ordnen, was wichtig und was unwichtig ist.
Dass wir verstehen, dass die soziale Beziehung und Bindung zu anderen
Menschen eigentlich unsere Gesellschaft erst ausmacht.»

Und welches Szenario wird Wirklichkeit? «Im Grunde gehen wir heute
davon aus, dass schon die Adaption gelingen wird - aber nicht
uneingeschränkt», erklärt Gatterer. Nach seinen Worten kann es also
in manchen Bereichen der Wirtschaft so etwas wie einen System-Crash
geben. Teile der Gesellschaft könnten sich auch zurückziehen, um sich
«den globalen Gefahren sukzessive zu entziehen», was etwa dem
Nationalismus Aufwind geben könnte. Klar sei aber auch: Jeder könne
dazu beitragen, die Krise zu überwinden - indem man ihre Lernchancen
nutze.