Die Rückkehr des starken Staates Von Christoph Driessen, dpa

Wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik greift der Staat
in der Corona-Krise in das Leben jedes Einzelnen ein. Der größte Teil
der Bevölkerung trägt das bisher mit. «Was wir erleben, ist die
Rückkehr des starken Staates.»

Berlin (dpa) - Wie hätte man wohl reagiert, wenn vor zwei Wochen
jemand gesagt hätte, dass man in Kürze nicht mehr ins Ausland reisen,
nicht mehr ins Restaurant gehen und nicht mehr mit Freunden Fußball
spielen darf? Die meisten hätten das wohl für unmöglich gehalten. Und

doch ist es nun so - zum ersten Mal in der 71-jährigen Geschichte der
Bundesrepublik.

Wesentliche Grundrechte wie die Versammlungs-, die Bewegungs- und die
Religionsfreiheit sind aufgrund der Corona-Epidemie eingeschränkt,
und es ist unklar, wann diese Eingriffe wieder zurückgenommen werden.
Kann davon eine Gefahr für die Demokratie ausgehen? «Nein, derzeit
nicht», meint der Soziologe Armin Nassehi von der
Ludwig-Maximilians-Universität München.

«Die Bewährungsprobe für die Demokratie besteht ja darin, schwierige

Entscheidungen zu erklären, plausibel zu machen und auch
wissenschaftlich zu begründen.» Eine Gefahr ergäbe sich erst dann,
wenn die Ausnahmeregelungen auch nach der Krise beibehalten würden,
so Nassehi. Eben dies sei nach den Terroranschlägen vom 11. September
2001 in einigen Ländern allerdings geschehen, warnt der Politologe
Andreas Maurer. Parlamente und Zivilgesellschaft seien deshalb zur
Wachsamkeit aufgerufen: Man denke an die diskutierte Ortung von
Corona-Infizierten über Handy-Daten.

Umfragen zeigen, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger die
Maßnahmen bisher mittragen und das Krisenmanagement der
Bundesregierung unterstützen. «Ich denke, so wie die Kurve der
Infizierten exponentiell angestiegen ist, ist auch - mit einer
gewissen Verzögerung - unser Verständnis für exponentielle Maßnahme
n
angestiegen», sagt die Kommunikations- und Politikwissenschaftlerin
Andrea Römmele.

Entscheidend dafür war nach Einschätzung der Professorin an der
Berliner Hertie School, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in
ihrer Fernsehansprache deutlich herausgearbeitet hat, wie schwer es
ihr fallen würde, eine Ausgangssperre zu erlassen. «Und was auch
wichtig war, um die Bevölkerung mitzunehmen: Merkel hat den Bürgern
Zeit gegeben, das Ausmaß der Krise zu erfassen und nachzuvollziehen.
Das geht nur Schritt für Schritt.» Deshalb lägen auch jene falsch,
die jetzt kritisierten, man hätte die ganzen Maßnahmen schon vor drei
Wochen erlassen müssen. Damals habe das dafür nötige
Krisenbewusstsein noch gefehlt, meint Römmele.

«Das ist eben der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer
Autokratie. In unserem System kann man solche weitreichenden
Eingriffe nicht von oben beschließen, sondern sie müssen von der
Bevölkerung mitgetragen werden.» Wichtig ist - in diesem Punkt sind
sich die Wissenschaftler einig - dass die Eingriffe in die
persönliche Freiheit des Einzelnen zeitlich befristet sind und
regelmäßig überprüft werden.

Römmele fühlte sich bei Merkels Ansprache an die Rede von
Bundeskanzler Helmut Schmidt am Tag der Entführung des
Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977 im «Deutschen
Herbst» erinnert. «Jeder weiß, dass es eine absolute Sicherheit nicht

gibt», sagte der SPD-Kanzler damals. Die Parallele zwischen beiden
Reden besteht für Römmele in der Botschaft, die Merkel auf die Formel
gebracht hat: «Die Lage ist ernst, also nehmen Sie sie auch ernst.»
Es ist das Einschwören der Bevölkerung auf unsichere Zeiten.

«Was wir erleben, ist die Rückkehr des starken und auch
selbstbewussten Staates», glaubt Römmele. «Der starke Staat mit
seinen Hilfspaketen und Rettungsschirmen.» Friedrich Merz, der in
erster Linie für Neoliberalismus und den Rückzug des Staates stehe,
werde unter diesen veränderten Bedingungen kaum noch Chancen auf den
CDU-Vorsitz haben. Angela Merkel erlebe dagegen ein Comeback: «Es ist
die Stunde der Amtsträger.»

Unbestritten hat sich in der Krise gezeigt: Es kann von Vorteil sein,
noch ein paar unrentable Krankenhausbetten in Reserve zu haben.
Nassehi meint: «Es gibt gesellschaftliche Bereiche, die sich nicht
vollständig auf Marktmechanismen verlassen können.» Was sich in der
jetzigen Krise gleichfalls auszahle, seien ein öffentlich
finanzierter Forschungssektor und der öffentlich-rechtliche Rundfunk.
Dieser habe sich - ebenso wie die Qualitätspresse - bewährt, indem er
die Bevölkerung einerseits verlässlich informiere, andererseits aber
auch Kontroversen abbilde und damit beweise, dass er eben kein
«Staatsfunk» sei.

Die Stärkung des Nationalstaats geht einher mit einer Schwächung der

Europäischen Union: Die im Alleingang erfolgten Grenzschließungen und
Ausfuhrstopps für Schutzausrüstungen und medizinische Geräte auch f
ür
Länder innerhalb des Binnenmarkts hätten von Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen auf keinen Fall stillschweigend hingenommen
werden dürfen, kritisiert der in Innsbruck und Brüssel lebende
Integrationsforscher Maurer. «Die EU hat bereits jetzt großen Schaden
genommen.»