Vom Telefon aus das Land lenken - Wie Politik trotz Coronavirus läuft Von Ulrich Steinkohl und Teresa Dapp, dpa

Homeoffice, Videokonferenzen, extra große Sitzungssäle: Auch in der
Politik läuft in der Corona-Krise kaum etwas wie gewohnt. Dabei sind
gerade jetzt schnelle Entscheidungen und ein klarer Kurs gefragt.

Berlin (dpa) - Rund 156 Milliarden Euro neue Schulden, Finanzspritzen
für die Wirtschaft vom Solo-Selbstständigen bis zum Großunternehmen,

Hilfen für Kliniken, für Mieter, für Familien, und, und, und. «Das

ist das Paket der Gesetze, das wir heute beschlossen haben», sagt
Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag in der Bundespressekonferenz
und hält demonstrativ einen etwa zehn Zentimeter hohen Papierstoß in
die Luft. Normalerweise würden Beschlüsse mit solcher Tragweite
Monate dauern. Jetzt muss eine Woche reichen.

Das politische Berlin funktioniert in der Corona-Krise. Doch es
funktioniert anders. Schon weil Corona auch um die Politik keinen
Bogen macht. Deutlichster Beweis: Auch Kanzlerin Angela Merkel hat
sich in Quarantäne begeben, nachdem sie erfuhr, dass ein Arzt, bei
dem sie am Freitag zu einer Impfung war, positiv auf das Coronavirus
getestet wurde. Per Telefonschalte von ihrer Berliner Privatwohnung
nahe der Museumsinsel aus leitet sie am Montag das Kabinett.

Von einer «Kabinettssitzung, wie es sie in der Geschichte der
Bundesrepublik wohl noch nicht gegeben hat», spricht später
Regierungssprecher Steffen Seibert. «Eine Kabinettssitzung, die
wiederum der Anfang einer Gesetzgebungswoche in Bundestag und
Bundesrat ist, wie es sie so wohl auch noch nicht gab.»

Nicht nach den Details, sondern nach dem Befinden der Kanzlerin wird
ihr Sprecher anschließend als erstes gefragt. Sehr viel mehr als «Der
Bundeskanzlerin geht es gut» gibt Seibert aber nicht preis. «Sie
macht ihre Arbeit eben vorläufig von zu Hause aus.» Und wartet auf
das Ergebnis ihres ersten Corona-Tests. Dieses fällt negativ aus, wie
am Nachmittag bekannt wird. «Es gibt sehr, sehr viele Wünsche und
Botschaften an die Bundeskanzlerin, gesund zu bleiben», berichtet
Seibert noch. «Und darüber freut sie sich.»

Auch sonst haben sich die Kabinettssitzungen verändert. Schon seit
einiger Zeit sitzen die Minister nicht mehr wie sonst eng
beieinander, sondern halten Abstand. Deswegen tagen sie extra in
einem größeren Saal als sonst. Aber immerhin trifft sich das Kabinett
noch leibhaftig und nicht per Video- oder Telefonschalte.

Diesen Weg werden aber manche Fraktionen einschlagen, wenn sie an
diesem Dienstag die Sitzungswoche vorbereiten. Die FDP hat für ihr
Videokonferenzsystem extra Kapazitäten dazugekauft und kann nun bis
zu 250 Personen zusammenschalten, wie ihr Erster Parlamentarischer
Geschäftsführer Marco Buschmann erläutert. Die Technik benutze man
für eine Fraktionssitzung zwar erstmals, insgesamt aber schon länger.
«Das ist bewährt und funktioniert gut.»

Die Grünen haben ihre Fraktionssitzung ebenfalls ins Netz verlegt -
in beiden Fraktionen gibt es positiv getestete Abgeordnete. Bei der
FDP ist es unter anderem der Außenpolitiker Alexander Graf
Lambsdorff, bei den Grünen der Ex-Vorsitzende Cem Özdemir. Trotz
allem will Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Dienstag im
Reichstagsgebäude live vor die Kameras treten - mit gehörigem
Sicherheitsabstand.

Die Union allerdings verzichtet trotz der wichtigen Entscheidungen
auf ihre ursprünglich geplante Sitzung, weil es im Fraktionssaal zu
eng ist. Anregungen und Fragen sollten Abgeordnete an die jeweiligen
Arbeitsgruppenchefs richten, sie werden dann in einer
Telefonkonferenz beraten. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus will
dann per Videostream über die Ergebnisse informieren.

Die AfD-Abgeordneten wollen nach Angaben ihres Sprechers eine
Fraktionssitzung abhalten, allerdings werden nicht alle Mitglieder
kommen. Es werde die Möglichkeit geschaffen, sich von zu Hause
zuschalten zu lassen, hieß es aus der Fraktion.

Bei der SPD ist es den Abgeordneten freigestellt, ob sie an der
Fraktionssitzung teilnehmen. Der Erste Parlamentarische
Geschäftsführer Carsten Schneider rief die Abgeordneten aber
eindringlich dazu auf, am Mittwoch nach Möglichkeit zu kommen. «Wenn
Ihr es gesundheitlich verantworten könnt, kommt bitte kommende Woche
nach Berlin, um an der Abstimmung am Mittwoch teilnehmen zu können»,
schrieb er den Abgeordneten.

Das Flehen hat seinen Grund: Um eine Notklausel der Schuldenbremse in
Kraft zu setzen und dem Staat mehr Verschuldungs-Spielraum zu geben,
muss am Mittwoch eine «Kanzlermehrheit» im Plenum mit Ja stimmen, das
sind 355 der 709 Abgeordneten.

Wie soll das funktionieren bei den nötigen Sicherheitsvorkehrungen?
Wenn die Abgeordneten weit genug auseinander sitzen, passen nach
Einschätzung der Bundestagsverwaltung etwa 200 von ihnen in den
Plenarsaal. Weitere sollen auf den Besuchertribünen Platz finden -
Besuchergruppen sind ohnehin nicht mehr zugelassen. Und viele werden
die Sitzung wohl auch von ihren Abgeordnetenbüros aus verfolgen und
nur zur Abstimmung kommen.

«Alles am Mittwoch abräumen», lautet das Motto für die Sitzungswoch
e,
die so auf einen einzigen Sitzungstag schrumpfen dürfte. Für die
soeben vom Kabinett beschlossenen Gesetze heißt das: erste Lesung,
Ausschussberatungen, zweite und dritte Lesung - alles an einem Tag,
was sich sonst über mehrere Sitzungswochen hinziehen würde. Wie
Regierungssprecher Seibert sagte: eine Gesetzgebungswoche ohne
Beispiel. Enden wird sie am Freitag im Bundesrat, wo sich unter
Corona-Gesichtspunkten ähnliche Probleme stellen wie im Bundestag. Es
reiche theoretisch, wenn jede Landesregierung nur einen Vertreter
schicke, erläutert eine Sprecherin der Länderkammer.

Dass manche Abgeordnete Sorgen und ein mulmiges Gefühl haben, wenn
sie nun in den Bundestag kommen, ist FDP-Mann Buschmann klar. Die
Sitzung ausfallen zu lassen, ist für ihn aber keine Alternative. Denn
Millionen Menschen warteten auf die Hilfen, die nun beschlossen
werden sollen. «Wir sind ein Stück weit kritische Infrastruktur - und
deshalb müssen wir jetzt funktionieren», sagt der Erste
Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion.