Wie bleibt das Parlament funktionsfähig? Fraktionen sind noch uneins

Damit das Abgeordnetenhaus beschlussfähig ist, müssen 81 von 160
Mitgliedern anwesend sein. Was passiert, wenn das in der Corona-Krise
nicht möglich ist?

Berlin (dpa/bb) - Wie lässt sich sicherstellen, dass das Berliner
Abgeordnetenhaus in der Corona-Krise funktionsfähig bleibt? Unter den
Fraktionen des Landesparlaments gibt es noch keine gemeinsame Antwort
auf diese Frage. Laut einem Sprecher des Abgeordnetenhauses will sich
der Ältestenrat am Montag treffen. Dann soll darüber beraten werden.
SPD und CDU befürworten eine Verfassungsänderung zugunsten einer
Notparlamentslösung mit deutlich weniger Abgeordneten, die
FDP-Fraktion ist entschieden dagegen und plädiert für Alternativen
wie ein virtuelles Parlament. Große Skepsis gibt es auch bei den
Grünen.

Es geht um viel: Das Landesparlament mit seinen 160 Abgeordneten ist
nur beschlussfähig, wenn bei den Abstimmungen in den Plenarsitzungen
mindestens 81 Abgeordnete anwesend sind. Falls eine größere Zahl
fehlt - weil sie selbst mit dem Coronavirus infiziert oder in
Quarantäne sind - wäre das gefährdet. Die Fraktionen sind deshalb
bereits in Gesprächen über eine Lösung. Gerade in der Krise müsse d
as
Abgeordnetenhaus handlungsfähig bleiben, sagte CDU-Fraktionschef
Burkard Dregger.

Nach Dreggers Einschätzung wäre die «sicherste Alternative» ein
Notparlament ähnlich wie es für den Bundestag vorgesehen sei. Einen
entsprechenden Vorschlag hat die SPD-Fraktion erarbeitet. Er wird von
der CDU-Fraktion unterstützt, hat die anderen Fraktionen aber noch
nicht überzeugt.

«Gerade in Krisenzeiten ist ein handlungsfähiges Parlament von
essenzieller Bedeutung. Unser oberstes Ziel ist es deshalb, die
Arbeit des Verfassungsorgans Abgeordnetenhaus sicherzustellen», sagte
Daniel Wesener, Geschäftsführer der Grünen-Fraktion. «Es ist daher

richtig, sich auf sämtliche denkbare Szenarien vorzubereiten,
einschließlich eines «worst case». Eine Änderung der Landesverfassu
ng
sehen wir Grüne aber äußerst kritisch», erklärte Wesener.

Paul Fresdorf, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion,
sieht das ähnlich: «Die Einrichtung eines Notparlamentes stellt für
uns einen tiefgreifenden Einschnitt in die Rechte der einzelnen
Parlamentarier dar», sagte er. Die Stimmrechte von 160 auf 27
Abgeordnete zu delegieren, wie es in dem SPD-Vorschlag vorgesehen
sei, rüttele an den Grundfesten des Parlamentarismus. «Bevor man so
tiefgreifende Eingriffe vornimmt, muss man prüfen, ob es mildere
Mittel gibt, das Ziel zu erreichen.»

Dafür bieten sich zumindest in der aktuellen Corona-Krise laut
Fresdorf digitale Lösungen an. Der FDP-Politiker denkt etwa an
«virtuelle Plenarsitzungen», bei denen Abgeordnete die Sitzung per
Videostream verfolgen und nicht selbst im Parlament anwesend sein
müssten, aber dennoch abstimmen könnten; oder an eine Videokonferenz
aller Mitglieder. Dabei müsse aber sichergestellt sein, dass sich die
Identität derjenigen überprüfen lasse, die dann an der Abstimmung
teilnehmen. Eine Alternative sei, nicht mehr im Abgeordnetenhaus zu
tagen, sondern in größeren Räumen oder verteilt auf mehrere Räume,

schlägt Fresdorf vor. «Es geht ja darum, Abstand halten zu können.»


Wesener warnt, es wäre ein verheerendes Signal gegenüber der
Öffentlichkeit, wenn dabei der Eindruck entstünde, dass die Rechte
der demokratischen Verfassungsorgane und freigewählten Abgeordneten
eingeschränkt werden sollten. Das Abgeordnetenhaus sei in allen
relevanten Belangen voll funktionsfähig. «Sollten es die Umstände
wirklich erforderlich machen, sind diverse Maßnahmen unterhalb der
Verfassungsschwelle denkbar.» Er regte an, mit Änderungen der
Geschäftsordnung zumindest einzelne Gremiensitzungen mit Hilfe
moderner Telekommunikation zu organisieren.

Torsten Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der
SPD-Fraktion, sagte, die anderen Fraktionen seien aufgefordert, am
Montag rechts- und verfassungskonforme Vorschläge zur Sicherung der
Funktionsfähigkeit des Parlaments zu unterbreiten. «Die SPD wird sich
jedem anderen rechtssicheren Weg anschließen.» Auch innerhalb der
SPD- und CDU-Fraktion gebe es gegen die Notparlaments-Variante
schließlich durchaus Bedenken.

Das Abgeordnetenhaus wird voraussichtlich am kommenden Donnerstag
tagen. Die für die vergangene Woche geplante Plenarsitzung war
ausgefallen. Der Grund war die Befürchtung, Abgeordnete seien bei
einer Veranstaltung im Landesparlament in Kontakt mit dem positiv
getesteten israelischen Botschafter Jeremy Issacharoff gekommen. Am
Freitag gab das Gesundheitsamt jedoch Entwarnung: Issacharoff sei bei
dem Termin selbst noch gar nicht infiziert gewesen.