Keine Normalität nach Tumulten in Vorlesung von AfD-Gründer Lucke Von Stephanie Lettgen, dpa

Niedergebrüllt, geschubst, beschimpft: Gut drei Monate sind seit den
heftigen Protesten gegen die Rückkehr von AfD-Mitbegründer Bernd
Lucke an die Universität Hamburg vergangen. Störungen gibt es derzeit
keine mehr. Doch Alltag sieht anders aus.

Hamburg (dpa/lno) - Die Szenen in einem Hamburger Hörsaal lösen vor
drei Monaten bundesweit eine Debatte über Meinungsfreiheit aus:
Hunderte Demonstranten verhindern mit ohrenbetäubenden Sprechchören
die erste Vorlesung von AfD-Mitbegründer Bernd Lucke nach seiner
Rückkehr an die Universität. «Hau ab» schreien sie und geben dem
Professor keine Chance, über Makroökonomik zu sprechen. Er wird als
«Nazischwein» beschimpft, angerempelt und mit Papierkugeln beworfen.
Beteiligt sind auch Mitglieder der «Antifaschistischen Aktion»
(Antifa). Die Konsequenz: Polizeischutz, privates Sicherheitspersonal
und Einlasskontrollen. An diesem Mittwoch hält Lucke die letzte
Vorlesung in diesem Wintersemester. Wie ist die Situation inzwischen?

Die Aufregung um Luckes Lehrtätigkeit scheint sich gelegt zu haben.
Es stehen aktuell keine Demonstranten mehr vor dem Physik-Saal, in
den Luckes Vorlesung nach den Vorfällen auf dem Hauptcampus und einer
Bombendrohung verlegt worden war. «Wir hatten in den letzten Wochen
keine Störungen mehr», sagt ein Polizeisprecher. Deshalb hätten sich

die Beamten weitgehend zurückgezogen.

Doch nach wie vor ist privates Sicherheitspersonal im Einsatz. Die
Studierenden müssen ihre Ausweise am Eingang zeigen. Es wird
überprüft, ob sie angemeldet sind. Studierende berichten, dass auch
während der Vorlesung Sicherheitsmitarbeiter an den Türen bleiben.
«Normalität ist insofern noch nicht wieder eingekehrt, als es nach
wie vor Sicherheitsvorkehrungen gibt», sagt Lucke auf Anfrage.

Allein die Ausgaben für den privaten Sicherheitsdienst für die
Vorlesung des 57-Jährigen belaufen sich nach Angaben der Universität
von Mitte Januar auf mehr als 100 000 Euro. «Die Universität legt
größten Wert darauf, sich auch insbesondere aus dem medialen Raum
keinerlei Vorwürfen auszusetzen, die Wissenschaftsfreiheit von Herrn
Prof. Lucke nicht gewährleistet zu haben», sagt Uni-Präsident Dieter

Lenzen. «Diesem Ziel haben sich finanzielle Erwägungen
unterzuordnen.» Sind die Vorkehrungen weiterhin notwendig? «Ich wäre

dafür, die Sicherheitsmaßnahmen jetzt zu beenden. Irgendwann muss man
ja doch ausprobieren, was passiert», sagt Lucke.

Wie es im April beginnenden Sommersemester weitergeht, ist noch nicht
ganz klar. Erst Anfang Februar erscheine das neue
Vorlesungsverzeichnis, teilt die Universität mit. Die Aufteilung der
Lehrveranstaltungsthemen unter den Lehrenden obliege der Fakultät,
die dies nach fachlichen Gesichtspunkten entscheide. Nach derzeitigem
Stand werde Prof. Lucke sowohl Seminare als auch Vorlesungen im
Wahlpflichtbereich geben. Wie groß diese Veranstaltungen sein werden,
lässt sich laut Universität noch nicht sagen, erst müssten die
Einschreibungen abgewartet werden. Die Hochschule könne noch keine
Aussage treffen, ob es auch im nächsten Semester weiter
Sicherheitsvorkehrungen geben werde.

Zum Hintergrund der Proteste: Der Volkswirtschaftler Lucke war 2013
als Euro-Kritiker maßgeblich an der Gründung der AfD beteiligt. 2014
ließ er sich von der Uni Hamburg beurlauben, um als Abgeordneter ins
Europaparlament einzuziehen. 2015 verließ er die Partei, nachdem er
im Streit um eine stärker nationalkonservative Ausrichtung als
Parteichef abgewählt worden war. Später forderte Lucke die gemäßigt
en
Mitglieder seiner Ex-Partei auf, Rechtsextremen in ihren Reihen die
Stirn zu bieten. Als er den Wiedereinzug ins Europaparlament
verpasste, kehrte Lucke 2019 schließlich an die Universität zurück.
Er ist Beamter des Landes.

Die Studierendenvertretung AStA rief vor der ersten Vorlesung im
Oktober zu einer Kundgebung vor dem Hauptgebäude der Uni auf. Aber
nicht zu den Störungen, betonte der AStA anschließend. Es sei vor
allem darum gegangen, «dass darüber diskutiert wird, wer sich hier
nach einer gescheiterten Politikkarriere in den Universitätsbetrieb
zurückzieht». «Unsere Kritik an Herrn Luckes menschenverachtenden
Aussagen besteht weiterhin, auch wenn wir derzeit keine weiteren
Aktionen planen», sagt ein AStA-Sprecher drei Monate danach.

Auch der Wissenschaftsausschuss der Bürgerschaft hatte sich mit den
Uni-Tumulten beschäftigt. Niederschreien und Gewalt in
Uni-Veranstaltungen seien auf das Schärfste zu verurteilen, sagte
Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) bei der
Sondersitzung. Ihr erstes Statement nach den Vorfällen war von vielen
als zu halbherzig und unklar kritisiert worden. Ihre Behörde betont
im Rückblick, die Senatorin habe sich von Beginn an mit Nachdruck
dafür eingesetzt, die Freiheit der Lehre zu gewährleisten.

Für Wirbel sorgte zu der Zeit auch ein Auftrittsverbot für FDP-Chef
Christian Lindner an der Universität Hamburg. Die Hochschule
begründete ihre Entscheidung damit, dass die Überlassung von Räumen
für Veranstaltungen mit parteipolitischer Ausrichtung explizit
ausgeschlossen sei. Eine Veranstaltung mit Linke-Fraktionschefin
Sahra Wagenknecht dagegen verstieß laut Universität - da als
wissenschaftliche Veranstaltung angekündigt - nicht gegen die
Ausschlussbedingung.

Die Wissenschaftsbehörde hat eigenen Angaben zufolge die Universität
inzwischen gebeten, das derzeitige Regelwerk zu präzisieren. So solle
eine einheitliche und nachvollziehbare Vergabepraxis für
Veranstaltungen gewährleistet werden.

Kurz nach den Tumulten in Luckes Vorlesung hatte die Universität
erklärt, ein digitales Angebot und eine zusätzliche Vorlesung zum
gleichen Thema bei einer anderen Dozentin anzubieten - um den
«zahlreichen verängstigten Studierenden» eine Alternative zu Luckes
Vorlesungen zu geben. Zusätzlich bot die Psychotherapeutische
Hochschulambulanz Ad-hoc-Therapien zur Bewältigung von
posttraumatischen Belastungsstörungen an.

Nach Angaben von Lucke sitzen aktuell rund 100 Studierende in seiner
Vorlesung. «Ich finde ihn als Professor gut», sagt Studentin Emelie.
Deshalb werde sie auch weiterhin seine Veranstaltungen besuchen. «Wir
reden ja nicht über Politik», meint ein Kommilitone, der seinen Namen
nicht nennen will. Student Wiktor berichtet, er sei schockiert
gewesen, mit welchen Mitteln in den ersten Wochen teilweise
protestiert worden sei. «Inzwischen habe ich es für mich abgehakt»,
sagt der 21-Jährige.