Leben mit dem Stigma - Noch immer erkranken Menschen an Lepra Von Anne-Sophie Galli, Emilio Rappold und Michael Donhauser, dpa

Die Bilder von Aussätzigen-Kolonien füllten einst Filme. Vor 20
Jahren endlich die erlösende Nachricht: Lepra ist ausgerottet. Doch
der Jubel war verfrüht, die Seuche kam zurück. Auch im Jahr 2020
müssen Betroffene mit dem Stigma leben.

Würzburg/Neu Delhi (dpa) - Jyothi (Name geändert) war zwölf Jahre
alt, als kleine helle Hautstellen in ihrem Gesicht und an den Händen
auftauchten. Berührte man die Stellen, fühlte sie nichts. Später
stellte der Mediziner Vivek Lal von der Deutschen Lepra- und
Tuberkulosehilfe die Diagnose: Das indische Mädchen hatte Lepra. An
den hellen Stellen waren seine Nerven tot.

Eine Diagnose wie Jyothi bekamen im Jahr 2018 nach Angaben der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) knapp 210 000 Menschen weltweit -
120 000 allein in Indien. Vor allem in Entwicklungsländern gibt es
immer wieder neue Fälle der Infektionskrankheit - in Indien,
Brasilien, Kolumbien oder Afghanistan. Oft ist inzwischen nicht die
Krankheit, sondern die Stigmatisierung der Betroffenen das
Hauptproblem.

Zum Weltlepratag am 26. Januar wollen Experten in aller Welt
Aufklärung betreiben. Der Tag wird seit 1956 immer Ende Januar
begangen, nahe am Todestag von Mahatma Gandhi, der sich auch für
Leprakranke engagiert hatte.

Lepra wurde schon an Mumien aus dem alten Ägypten nachgewiesen. Erst
1873 entdeckte aber der norwegische Mediziner Gerhard Armauer Hansen
das hinter der Krankheit steckende Bakterium Mycobacterium leprae. Es
lässt Nerven absterben, die Betroffenen spüren an den betroffenen
Stellen nichts mehr. Verletzen sie sich dort, können sie unbemerkt
Infektionen bekommen - die im Extremfall und bei medizinischer
Unterversorgung zum Tod führen können.

Jahrtausendelang wurden Leprakranke als «Aussätzige» behandelt,
mussten in isolierten Kolonien auf Inseln oder in abgelegenen
Landstrichen leben. In Japan wurde erst 1996 ein Gesetz abgeschafft,
das die Inhaftierung und Zwangssterilisierung von Leprakranken
vorsah. In Indien gibt es noch immer 700 Kolonien für Leprakranke,
sagt der Mediziner Lal. In einigen Kulturkreisen wird Lepra weiterhin
als Strafe Gottes für Sünden auf Erden gesehen. Erst 2018 änderte das

indische Parlament ein Gesetz, das eine Lepra-Erkrankung des Partners
als akzeptierten Grund für eine Scheidung ansah.

Jyothis Eltern seien geschockt gewesen, sagt Mediziner Lal. Sie
hätten Angst gehabt, dass Körper und Gliedmaßen ihrer Tochter
sichtbare Verformungen bekommen könnten. Dass sie vielleicht nie
heiraten könnte. Als Jyothi Medikamente nahm, erkannten auch ihre
Mitschüler, woran sie litt. Die Haut wurde etwas dunkler - eine
normale Nebenwirkung, die wieder verschwindet, wenn man die
Medikamente absetzt, wie Lal sagt. Kinder hätten Angst gehabt, dass
sie sich anstecken könnten, wenn sie Jyothi berührten. Da habe sie
der Schulleiter aufgefordert, die Schule zu verlassen.

Mediziner sind sich sicher, dass solche Maßnahmen übertrieben sind.
Lepra ist wenig ansteckend, leicht zu diagnostizieren und mit
Medikamenten schon seit den 1980er Jahren heilbar, wie die Deutsche
Lepra- und Tuberkulosehilfe betont. Vor 20 Jahren hatte die WHO Lepra
als eliminiert eingestuft - die Erkrankung sei kein globales Problem
für die öffentliche Gesundheit mehr. Kontrollmechanismen wurden
abgeschafft, die Stigmatisierung Betroffener nahm daraufhin noch zu.

«Man dachte damals, dass eine Quote von weniger als einem Fall pro 10
000 Einwohner niedrig genug wäre, um die Ansteckung zu unterbrechen -
doch das hat sich nicht bewahrheitet», erläutert Burkard Kömm,
Geschäftsführer der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe. Heute
steht Lepra auf der WHO-Liste der 20 vernachlässigten
Tropenkrankheiten. Noch immer müssen Menschen sich verstecken, wenn
die Krankheit ausbricht - oft nach einer Inkubationszeit von vielen
Jahren oder gar Jahrzehnten.

Sabine Ludwig aus Würzburg, Sprecherin der Deutschen Lepra- und
Tuberkulosehilfe, hat in den vergangenen Jahren viele Leprakranke
kennengelernt. Seit sieben Jahren besucht sie Projekte und
Hilfseinrichtungen in den betroffenen Regionen. Ein alter Mann im
Südsudan ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. «Er lebt in einem
Dorf, das nicht durch eine Straße erreicht wird», sagt sie. Die
Mitarbeiter einer mobilen Krankenstation müssen zwei Stunden zu Fuß
gehen, um ihn zu versorgen. Wenn sie Glück haben, klappt der Weg mit
einem Gelände-Motorrad.

«Wenn die Helfer kommen, das ist ein Highlight für den Mann», sagt
Ludwig. Die Sanitäter und Mediziner versorgen nicht nur Wunden und
bringen Medikamente, sie sind auch der Draht in die Außenwelt. «Die
Leute wollen über ihr Leben erzählen, sie wollen erzählen, was Lepra

bei ihnen angerichtet hat», sagt Ludwig.

Stigmatisierung ist kein Thema ausschließlich für Entwicklungsländer.

Obwohl in Europa längst ausgerottet, widmet sich eine Einrichtung in
Spanien weiterhin der Bekämpfung der Krankheit. Im Dorf Fontilles im
bergigen Hinterland der Costa Blanca unweit von Alicante wohnen im
Sanatorium San Francisco de Borja immer noch knapp zwei Dutzend
frühere Kranke, die alle sehr alt sind.

Warum bleiben sie im Sanatorium, wenn sie gesund sind? Einige hätten
zum Beispiel Verletzungen, die eine tägliche Behandlung erforderlich
machen, andere seien wegen einer verspäteten Diagnose in Fontilles
besser aufgehoben, erklärte der Medizinische Leiter José Ramón Góme
z
in verschiedenen Interviews spanischer Medien. Für zahlreiche der
Insassen trifft aber der schrecklichste Grund zu. «Sie werden von der
Gesellschaft und auch von ihren eigenen Familien immer noch
ausgegrenzt», so Gomez.

«Wir haben die Krankheit besiegt, die Stigmatisierung noch nicht»,
klagte auch die für freiwillige Dienste und Sensibilisierung
zuständige Direktorin des Sanatoriums, Yolanda Sanchis, im Interview
mit der Zeitung «El País». Die Arbeit des seit 1909 existierenden
Sanatoriums ist aber nicht umsonst. Die Stiftung Fontilles
finanzierte 2019 nach eigenen Angaben 27 Projekte in elf Ländern
Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die insgesamt rund 400 000
Menschen zugute kamen.