Mordprozess gegen Sekten-Chefin: Junge wurde laut Zeugin gequält

Der Fall eines kleinen Jungen, der qualvoll in einem Sack erstickt
sein soll, sorgt auch über 30 Jahre nach dessen Tod für Aufsehen. Am
Dienstag sagte ein frühes Mitglied der Hanauer Sekte gegen die
Anführerin aus. Sie berichtete von Erniedrigungen und Gewalt.

Hanau (dpa/lhe) - Im Mordprozess gegen eine Sekten-Chefin hat eine
Zeugin von Misshandlungen des späteren Opfers berichtet. Der kleine
Junge, der von der Anführerin im August 1988 getötet worden sein
soll, sei einige Monate vorher im Badezimmer des Hauses von der
Angeklagten gequält worden. Das Kind sei komplett in einen Sack
eingeschnürt und zusätzlich mit einer Binde fixiert gewesen. Es habe
ausgesehen wie eine Mumie, die sich auf und ab senke. Womöglich sei
es geknebelt gewesen, weil kein Ton zu hören gewesen sei. «Das Bild
werde ich nie aus meinem Kopf kriegen», sagte die 61 Jahre alte
Zeugin, die im Jahr 1990 aus der Sekte ausstieg, am Dienstag im
Prozess vor dem Hanauer Landgericht.

Kopf der Gruppe ist eine 72-Jährige Frau, die sich seit drei Wochen
wegen Mordes verantworten muss. Ihr wird vorgeworfen, dass sie den
Vierjährigen - das Kind eines befreundeten Paares und Mitglieder der
Gruppe - ermordet habe. Sie soll ihn in einem Leinensack ersticken
lassen haben. Die Angeklagte soll den Jungen laut Anklage als «von
den Dunklen besessen» angesehen haben. Die Frau bestreitet die
Vorwürfe. Die Polizei ging damals davon aus, dass der Junge an
Erbrochenem erstickte - ein Unglücksfall ohne Fremdeinwirkung.

Kurz nach der Szene im Badezimmer sei die Zeugin von der nun
Angeklagten auf ihre Beobachtungen angesprochen worden. Die
Sektenchefin habe ihr gesagt: Der Junge solle genauso daliegen, so
sei es richtig. Nach Angaben der Zeugin wurde der Junge gequält und
beschimpft. Die Sekten-Chefin habe ihn eine «Reinkarnation Hitlers»
genannt. Gott habe sie ermächtigt, mit ihm «umzugehen».
Der wiedergeborene Hitler habe bei ihr die Chance bekommen, sich zu
ändern, habe die Sekten-Chefin erklärt.

Laut Aussagen der Zeugin am Dienstag wurde der Junge gezwungen, zur
Verrichtung seiner Notdurft quälend lange auf dem Töpfchen zu sitzen.
Er habe bereits Hornhaut am Gesäß gehabt. Zudem habe er mit dem
Gesicht zur Wand sitzen müssen, weil er ein «dreckiger Schauaffe»
gewesen sei, wie ihn die Sekten-Chefin genannt habe. Alles, was der
Junge gemacht habe, habe er aus Bosheit getan, habe die Anführerin
gesagt.

Die Zeugin sagte, sie sei durch eine Freundin in die Gruppe gekommen
und habe nach Gotteserfahrungen gesucht. Sie sei fasziniert gewesen
von der Idee, dass Gott durch Träume spreche. Zu Beginn sei alles
relativ harmlos gewesen, doch nach und nach sei «der Strick»
zugezogen worden, beschrieb sie das Klima in der Gruppe. Sie sei bei
der Anführerin in Ungnade gefallen und beleidigt und erniedrigt
worden; so sehr, dass sie schließlich über Suizid nachgedacht habe.

Die Glaubensgemeinschaft gibt es seit Anfang der 1980er Jahre in
Hanau. Im Zentrum steht die nun angeklagte 72-Jährige, eine gelernte
Krankenschwester. Ihre Träume, in denen ihr zufolge Gott zu ihr
spricht, sind Grundlage für Glauben und Leben innerhalb der Gruppe.
Der vierjährige Junge war laut Zeugenaussagen nicht das einzige Kind,
dass dort misshandelt wurde.