Gehirne im Stress: Buch oder Screen - Lesen oder Daddeln? Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

Lesekompetenz gilt als zentral für den Bildungserfolg. Doch bei
vielen hapert es daran. Digitale Medien dürfen das Buch nicht
ersetzen, warnen Experten. Was sagt eigentlich unser Gehirn dazu?

Dortmund (dpa) - Lesen ist das A und O. Lesekompetenz gilt als
zentraler Schlüssel zum Bildungserfolg. Aber wie viel Buch muss
bleiben und wie digital darf es werden, wenn Kinder lesen lernen?
Eine Frage, die zum bundesweiten Vorlesetag (15. November) in den
Fokus rückt. Wissenschaftler machen spannende Beobachtungen, wie das
Gehirn reagiert, wenn es den komplexen Vorgang «Buch-Lesen» meistern
soll oder wenn man es digital füttert.

Beim Lesen eines Buches bleibe mehr hängen, es habe auch einen
höheren Anspruch, ist der Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred
Spitzer überzeugt. «Beim Bildschirm-Lesen flackert jeder Blödsinn
rüber, jeder kann irgendwas schreiben und per Knopfdruck in die Welt
senden.» Er betont: «Lesen lernt man durch Lesen. Wenn nur noch kurze

Nachrichten über kleine Bildschirme gelesen werden, ist das
hochproblematisch.»

Und: «Lesen bildet, Daddeln nicht» - auch elektronische Lehrbücher
verführten zum Daddeln, beobachtet der Gründer des Transferzentrums
für Neurowissenschaften und Lernen an der Universität Ulm. Digitale
Medien hätten in Grundschulen nichts zu suchen. Mit Verweis auf
Untersuchungen von Wissenschaftlern und Kinderärzten warnt Spitzer:
Digitaler Medienkonsum schade im Kindergartenalter der
Sprachentwicklung und führe im Grundschulalter zu Störungen der
Aufmerksamkeit.

Bei der Lesekompetenz von Kindern in Deutschland hapert es erheblich,
wie bei Studien festgestellt wurde. Laut Stiftung Lesen hat jedes
fünfte Grundschulkind Probleme beim Lesen. Lernforscherin Katharina
Scheiter sagt, dass Kinder und Jugendliche durchaus viel lesen. Das
sei ermutigend. «Aber das Leseverhalten hat sich durch die
Digitalisierung verändert, auch jüngere Kinder lesen schon digital.»

Bei längeren Texten, die auf dem Handy, Tablet, am PC- oder
Laptop-Bildschirm gelesen würden, gebe es Schwierigkeiten, das
Gelesene tiefer zu verarbeiten und im Gedächtnis abzuspeichern,
erklärt die Psychologin vom Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM)
in Tübingen.

Mit den digitalen Medien gewinne man anreichernde Quellen wie
Erklärvideos, Bilder, Grafiken, Animationen - ein Plus. «Die große
Frage ist aber: Wie bekommen wir das alles gut verknüpft?» Es bereite
Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen Schwierigkeiten, die
Inhalte der verschiedenen Quellen einzeln zu verstehen und in Bezug
zueinander zu stellen.

Scheiter zufolge sollte die digitale Variante vor allem
unterstützenden Charakter haben - sofern sie einen didaktischen
Mehrwert habe. Zuhause wie in der Schule müssten Kinder in die
digitale Nutzung eingewiesen werden. «Es darf auch im Unterricht
nichts ungeleitet geschehen und Schüler dürfen mit dem multimedialen
Angebot nicht überfordert werden.» Eine Chance sieht sie dafür, die
Schere zwischen bildungsschwachen und -affinen Familien etwas zu
schließen: «Digitale Medien haben für die individuelle Förderung ei
n
hohes Potenzial. Man kann viel besser differenzieren.» Die Klassen
seien sehr heterogen, bedingt auch durch unterschiedliche soziale
Herkunft - hier lasse sich digital gut ansetzen.

Hirnforscher und Psychologe Peter Gerjets schaut aufs Gehirn.
«Digitales Lesen heißt auch multimediales Lesen, mit Hyperlinks,
bewegten und interaktiven Grafiken, Animationen - solche digitalen
Leseelemente können das Gehirn stark beanspruchen», erläutert der
Experte vom IWM. Das habe sich auch bei Untersuchungen mittels EEG -
Stromsignale werden dabei an der Kopfhaut abgelesen - gezeigt. Ein
Beispiel: Bei einer Internet-Suchaufgabe beobachten die Forscher des
IWM sehr viel Aktivität im Frontalbereich des Gehirns.

«Lesen im Internet ist anstrengender und tendenziell
oberflächlicher», so Gerjets. «Ressourcen, die für ein tiefes Lesen

nötig wären, werden leicht durch Klicken und Multimedia
verschwendet.» Das längere Lesen funktioniere am Bildschirm oder
Screen nicht so gut wie das Lesen eines Buches. Auch er betont: Das
Lesen auf Papier, das Lesen längerer Texte in Büchern sei sehr
wichtig. «Das muss unbedingt bleiben. Was man dabei lernt -
Konzentration, Gedankengänge länger verfolgen - erweitert das
Gehirn.»

Verändert sich unsere Schaltzentrale im Kopf, wenn sie von Kindheit
an immer stärker auf digital umschaltet? Der Grundmechanismus des
Gehirns ändere sich zwar nicht, die synaptische Struktur aber schon,
erklärt Gerjets. «Was nicht aktiviert wird, wird abgebaut. Da ist das
Gehirn wie ein Muskel, den man trainieren muss: Use it or lose it.»