Lustloses Deutschland?  Von Marco Krefting, dpa

Seit der «Freizeit-Monitor 2019» vergangene Woche erschienen ist,
spricht Deutschland über Sex. Die Bundesbürger hätten immer weniger
davon, heißt es. Was steckt dahinter, welche Folgen kann das haben
und gibt es einen Richtwert, wie viel Sex «richtig» ist?

München (dpa) - «Lass uns nicht von Sex reden», sang die Band
Blumfeld vor Jahren. «Ich weiß gar nicht wie das gehen soll: sich
vereinigen.» Heute herrscht oft Ruhe in deutschen Betten. Für Leute
vom Fach wird Lustlosigkeit immer häufiger zum Thema.

«Sexuelle Lustlosigkeit ist ein Standardthema in meiner Praxis», sagt
die Münchner Sexual- und Paartherapeutin Heike Melzer. Der jüngst
veröffentlichte «Freizeit-Monitor 2019» offenbart: Nur 52 Prozent d
er
Bundesbürger haben wenigstens einmal pro Monat Sex. Fünf Jahre zuvor
waren es noch 56 Prozent. Die Lustlosigkeit sei aber partnerbezogen,
betont Melzer. Enormer Pornokonsum sowie unendliche Online-Angebote
für unverbindlichen und käuflichen Sex führten dazu, dass sich die
triebhafte Seite der Sexualität von verbindlichen Partnerschaften
entkoppelt. Ein fortwährend gleichbleibender Partner hingegen werde
mit der Zeit unattraktiv, erläutert die Expertin.

Ähnlich sieht es Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch: «Aus meiner
Sicht ist entscheidend, dass heute die permanenten digitalen
Möglichkeiten des sexuellen Erregens und Handelns den Reiz des
Sexuellen in dem Sinne gedämpft haben: «Ich muss das jetzt ja nicht
machen, ich kann das ja jederzeit nachholen»», erklärt er. «Je
leichter etwas zu erreichen ist, desto mehr verliert es an Reiz.»

Melzer unterscheidet davon die generelle Lust. «Die Anzahl von
Orgasmen ohne Partner, zumindest ohne verbindlichen Partner, haben in
den vergangenen Jahren durch die online ständig verfügbaren starken
sexuellen Reize zugenommen», sagt sie. «Der Aufwand, mit einem
Partner Sex zu haben, ist mittlerweile schon zu anstrengend. Es geht
aus der Retorte der Pornografie oder mit leistungsstarken Sex-Toys um
vieles einfacher.» Der Aspekt der Bindung komme dann aber zu kurz.

Die Studie der Stiftung für Zukunftsfragen, die den
«Freizeit-Monitor» veröffentlicht hat, differenziert in viele
Untergruppen: 59 Prozent der Eltern in der Altersgruppe der 25- bis
49-Jährigen haben demnach wenigstens einmal die Woche Sex, 82 Prozent
mindestens einmal im Monat. Am wenigsten Sex haben den Angaben nach
Singles (27 Prozent wöchentlich, 49 Prozent monatlich) und
Ruheständler ab 65 Jahre: 7 Prozent beziehungsweise 23 Prozent.

Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß von der Hochschule Merseburg
hat zwar Zweifel, dass die Studie für die einzelnen Gruppen wegen
kleiner Fallzahlen noch repräsentativ ist. Die Tendenz aber etwa im
Bezug auf Singles stimme, «anders als es populär gemeinhin erwartet
wird». Gemäß den Studien aus der Leipziger und Merseburger
Sexualwissenschaft und der Hamburger Sexualforschung würden lediglich
fünf Prozent des «Sexaufkommens» von Singles erbracht, formuliert er.

Für junge Leute gelte: «Die einen immer früher, die anderen immer
später.» Für das Mittel betrachtet bleibe das Einstiegsalter in den
Sex, also der erste Geschlechtsverkehr, somit etwa gleich.

Die Gründe für die zunehmende Lustlosigkeit sind unterschiedlich.
Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der repräsentativen
Untersuchung für den «Freizeit-Monitor», etwa nannte ausgeprägtere

Smartphone-Nutzung als Beispiel: «Wenn der Partner die ganze Zeit am
Telefon ist, ist das nicht gerade eine romantische Stimmung, die da
entsteht.» Voß nennt vor allem beruflichen Stress als Lustkiller:
«Kurz nach der Arbeit nach Hause kommen und sexuell funktionieren zu
sollen, geht nicht beziehungsweise nur schwer. Für guten Sex und
gutes Miteinander insgesamt sollte man sich Zeit nehmen.»

Hinzu komme Leistungsstress durch Pornoindustrie und Social Media,
wie Melzer es nennt: «Dauererigierte Penisse, multiple Orgasmen,
knackige Körper auch dank entsprechender Filter - der von uns
wahrgenommene Soll-Wert beim Sex stimmt nur noch selten mit dem
tatsächlichen Ist-Wert überein.» Dabei sei der Trend, dass wir
weniger Sex haben, nicht nur ein deutsches Phänomen, sondern finde
sich auch in vielen anderen Ländern. Gleichzeitig steige die Anzahl
an Unberührten. So hätten in Japan rund vier von zehn der 18- bis
36-Jährigen noch überhaupt keine sexuellen Erfahrungen.

Dass wir uns in Sachen Sex vergleichen, ist aus Melzers Sicht kein
Problem - sondern völlig normal. «Dabei sind besonders Männer
leistungsorientierter und vergleichen sich gerne kompetitiv mit ihrem
Umfeld», sagt sie. Jedoch seien Umfragen zu Sex-Themen mit Vorsicht
zu genießen, weil Männer dazu neigten, zu übertreiben und zu prahlen,

während Frauen eher weniger erzählten als sie wirklich erleben.

Auf die Frage, wie viel Sex «richtig» ist, gibt es allerdings keine
allgemeingültige Antwort: «Ich habe Menschen, die auf Sex vollständ
ig
verzichten und darin auch kein Problem sehen, und andere, die dreimal
täglich Sex haben und dies für normal empfinden», so Melzer. Dabei
könne man mit zu wenig als auch mit zu viel Sex Probleme bekommen.

«Die größten Sorgen bereiten mir aktuell die Vielzahl an Menschen,
die in eine Sexsucht abgleiten mit allen klassischen Symptomen der
Toleranzentwicklung, Dosissteigerung bis hin zum Kontrollverlust und
starken negativen Auswirkungen in dem Leben», sagt Melzer. Erst in
diesem Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation zwanghafte sexuelle
Störungen als Krankheit anerkannt. «Sex entwickelt sich immer mehr zu
einem Konsumprodukt und ebenso wie in der Ernährung gibt es bei einem
Zuviel Nebenwirkungen, die vielen noch gar nicht so bewusst sind»,
sagt Melzer - von Beziehungsproblemen bis zu Erektionsstörungen.