Von der Leyen hofft auf Mehrheit im EU-Parlament

Eine Grundsatzrede, eine stundenlange Debatte - und dann die Stunde
der Wahrheit: Für Ursula von der Leyen kommt es bei der Wahl zur
EU-Kommissionschefin auf jede Stimme an.

Straßburg (dpa) - Ursula von der Leyen stellt sich am Dienstag zur
Wahl als EU-Kommissionspräsidentin - und sie muss bis zur letzten
Minute um eine Mehrheit im Europaparlament kämpfen. Die Fraktionen
der Sozialdemokraten, der Liberalen und der Rechtskonservativen
wollen sich erst nach der Bewerbungsrede der CDU-Politikerin (ab
09.00 Uhr) festlegen. Die geheime Abstimmung folgt am Dienstagabend
um 18.00 Uhr.

Von der Leyen hatte am Montag noch einmal mit neuen Zusagen an die
Abgeordneten um Unterstützung geworben und sogar ihren Rücktritt als
Bundesverteidigungsministerin angekündigt, um ihrer Bewerbung
Nachdruck zu verleihen. Wird sie gewählt, tritt von der Leyen am 1.
November die Nachfolge des Luxemburgers Jean-Claude Juncker an und
bestimmt für fünf Jahre Politik und Prioritäten der EU mit.

Fällt sie durch, müsste der Rat der EU-Staats- und Regierungschefs
binnen eines Monats einen neuen Vorschlag machen. Für die große
Koalition in Berlin wäre dies eine Belastung. Denn die 16
SPD-Europaabgeordneten haben Nein-Stimmen angekündigt.

Der SPD-Politiker und Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD)
wirbt aber inzwischen offen für die Wahl von der Leyens. Er stellte
sich am Montag klar gegen die Kritik aus seiner Partei und sagte der
«Hannoverschen Allgemeinen Zeitung»: «Ich empfehle Ursula von der
Leyen als Kommissionspräsidentin. Alles andere würde eine Schwächung

der Europäischen Union bedeuten. Und das kann niemand wollen.»

Bei einer Sitzung der sozialdemokratischen Fraktion im EU-Parlament
gab es am Montagabend nach Angaben von Teilnehmern ebenfalls positive
Stimmen. Dies habe sich vor allem auf einen achtseitigen Brief von
der Leyens an die Fraktionsspitze bezogen, in dem die Kandidatin
nochmals Zusagen in der Sozial-, Wirtschafts- und Klimapolitik
machte. Dieser sei konkreter und sozialdemokratischen Zielen näher
als von der Leyens Auftritt letzte Woche, hieß es.

Doch gebe es auch Misstrauen, ob sie die Zusagen einhalte. Einige
Abgeordnete lehnten die Kandidatin aus prinzipiellen Erwägungen ab.
Eine Entscheidung werde erst am Dienstag fallen. Dies gilt auch für
die rechtsnationale Fraktion EKR, die von der Leyen zunächst
Wohlwollen signalisiert hatte, dann aber wieder etwas auf Distanz
gegangen war.

Für die Wahl benötigt von der Leyen die absolute Mehrheit der derzeit
747 Abgeordneten. Es müssten also mindestens 374 Abgeordnete für sie
stimmen. Deutlich hinter die CDU-Politikerin gestellt hat sich
bislang nur die eigene Parteienfamilie EVP mit 182 Sitzen. Sie
braucht jedoch auch Stimmen aus der sozialdemokratischen Gruppe mit
153 Sitzen und von den Liberalen, die insgesamt 108 Mandate haben.

Die FDP-Politikerin Nicola Beer hatte ihre persönliche Unterstützung
für von der Leyen signalisiert, kann aber nach eigenen Angaben wegen
Krankheit nicht an der Abstimmung teilnehmen. Zur Haltung ihrer
Fraktion Renew Europe erklärte Beer nur: «RE will Teil der positiv
gestaltenden Mehrheit sein.»

Von der Leyen machte ihren Verzicht auf das Amt der
Verteidigungsministerin am Montagnachmittag mit einem Tweet unter dem
Titel «Meine Entscheidung für Europa» bekannt: «Ich möchte morgen
das
Vertrauen des Europäischen Parlaments gewinnen. Unabhängig vom
Ausgang werde ich am Mittwoch als Verteidigungsministerin
zurücktreten, um meine volle Kraft in den Dienst von Europa zu
stellen.» Bundeskanzlerin Angela Merkel wertete dies als Zeichen der
Entschlossenheit. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sprach von
einem «klaren Signal an Europa»: «Kandidatur ohne Netz und doppelte
n
Boden», schrieb sie auf Twitter.

Mit der Rücktrittsankündigung von der Leyens stellt sich in Berlin
nun die Frage, wer den wichtigen Kabinettsposten übernimmt. Als
mögliche Kandidaten sind unter anderem Gesundheitsminister Jens
Spahn, die Verteidigungsexperten Johann Wadephul und Henning Otte
(alle CDU) sowie Ex-CDU-Generalsekretär und
Verteidigungsstaatssekretär Peter Tauber im Gespräch.

Bei der Union hat das Verhalten der SPD bei der Personalie von
der Leyen für Unmut gesorgt. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende
Julia Klöckner legte jetzt in der «Rheinischen Post» (Dienstag)
nochmal nach: «In Berlin koalieren und in Brüssel schamlos gegen Frau
von der Leyen wettern - das tut man nicht», sagte sie der Zeitung.
Der kommissarische SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel sagte der
«Rheinischen Post» und dem Bonner «General-Anzeiger» hingegen, di
e
Konservativen in Europa hätten ihrem eigenen Spitzenkandidaten
Manfred Weber (CSU) die Zustimmung verweigert. «Dadurch ist das
Problem entstanden.» Die SPD wolle Europa demokratischer und
transparenter gestalten und halte deshalb am Spitzenkandidatenprinzip
fest.

Der frühere Unions-Fraktionschef Friedrich Merz nannte das Verhalten
der SPD «in der Tat grenzwertig». Auf Zweifel angesprochen, ob die
große Koalition bei einer Niederlage von der Leyens die Woche
übersteht, sagte er der «Schwäbischen Zeitung» (Dienstag): «Die
Koalition läuft auf so dünnem Eis, dass es jederzeit einbrechen
kann.»