Pilotprojekt mit Telenotärzten - Erster Eindruck: «ermutigend» Von Heiko Schneider, dpa

Der Main-Kinzig-Kreis geht als erster in Hessen bei medizinischen
Notfällen neue Wege. Sanitäter können sich beim Einsatz Ratschläge

von Telenotärzten holen, die sie per Video hinzuschalten. Nach gutem
Start sollen weitere Rettungswagen so ausgerüstet werden.

Gelnhausen (dpa/lhe) - In Hessen steigen die Zahlen der
Rettungsdienst- und Notarzteinsätze, derweil befürchten Experten
einen baldigen Notärztemangel. Das kann zum Problem werden - denn im
Ernstfall kann es auf Sekunden ankommen. Der Main-Kinzig-Kreis geht
deshalb neue Wege und setzt auf Telenotärzte.

Im Rettungswagen in Gelnhausen herrscht reges Treiben: Auf der Trage
liegt Philipp, neben ihm piepst das EKG. Sanitäter Karsten De Man
misst bei dem jungen Mann den Blutdruck, legt eine Infusion und setzt
ihm die Atemmaske auf. Philipp ist nach einem Bienenstich
zusammengebrochen - womöglich ein allergischer Schock.

«Bei unserem Patienten sind keine Allergien bekannt, allerdings hatte
er Kreislaufprobleme, er hat auf den Bienenstich sehr schlecht
reagiert», sagt Sanitäter De Man in sein Bluetooth-Headset, «weshalb

ich dich bitte, den Patienten mit mir zu versorgen.» Eine Stimme in
seinem Ohr antwortet: «Ja, oben am Hals - ich sehe es», während
Sanitäter De Man auf die Einstichstelle zeigt.

Die Stimme gehört zu Bernd Rotermund. Er ist Telenotarzt und sitzt in
der Rettungsleitstelle in Aachen. Von dort aus verfolgt er alles, was
im Rettungswagen passiert: Dank der Kameras an der Decke des
Fahrzeugs kann Rotermund den Patienten auf seinen Computer-Monitor
sehen, auf einem anderen Monitor sieht er die EKG-Daten. Übertragen
wird alles per mobilem Internet.

Das Telenotarzt-System wird in Hessen bislang nur in diesem einen
Rettungswagen im Main-Kinzig-Kreis eingesetzt. Seit einem knappen
halben Jahr läuft die Erprobung im Spessart, an der
hessisch-bayrischen Landesgrenze. Wegen der langen Fahrtzeiten habe
sich das Gebiet angeboten, erklärt der Rettungsdienstleiter des
Kreises, Günther Seitz, der das Pilotprojekt initiiert hat. Fordern
Sanitäter hier den Notarzt erst vor Ort nach, können so über 30
Minuten Wartezeit zusammenkommen. Der Tele-Notarzt ist hingegen
sofort da - auf Knopfdruck.

Zudem habe man testen wollen, ob die Internetverbindung hält. «Die
ersten Ergebnisse im ersten halben Jahr sind sehr ermutigend», sagt
Seitz nach erfolgreicher Probe. Der Main-Kinzig-Kreis stattet deshalb
jetzt noch sechs weitere Rettungswagen mit dem Telenotarzt-System aus
und hat dann sieben Einheiten. «Wir versprechen uns eine Entlastung
unserer fünf Notarztsysteme», so Seitz. Man wolle damit auf den
Notärztemangel reagieren und Notaufnahmen in Krankenhäusern
entlasten. So müssten die Notärzte laut Hochrechnungen durch das
Telenotarzt-System in einem Jahr mehr als ein Zehntel weniger
Einsätze fahren.

Das Telenotarzt-System soll ab Juli zwei Jahre lang getestet werden.
Dafür werden sechs weitere Rettungswagen mit der Technik
ausgestattet. Der Landkreis trägt die Kosten über den
Rettungsdienst-Gebührenhaushalt, womit sie vollständig über die
Krankenkassen refinanzierbar sind. Für das erste Projektjahr sind
laut Kreis 485 000 Euro kalkuliert.

Der Main-Kinzig-Kreis arbeitet dabei eng mit dem Projektpartner und
Betreiber des Telenotarztnetzwerkes Aachen, «P3 telehealthcare»,
zusammen. In Aachen wird das Telenotarzt-System bereits seit 2014
eingesetzt. In Hessen betritt der Main-Kinzig-Kreis Neuland. Auch in
anderen Landkreisen wie Gießen und Marburg-Biedenkopf gibt es
Überlegungen, den Telenotarzt einzusetzen.

«Das System kann den klassischen Notarzt nicht ersetzen. Der darf
nicht abgebaut werden», sagte Jörg Blau, Vorsitzender der
Arbeitsgemeinschaft der Notärzte in Hessen, dem «Hessischen
Rundfunk». «Der Telenotarzt kann nicht eingreifen, er kann bei
Komplikationen nicht behandeln. Er ist ja nicht vor Ort. Das können
Sie nicht nur vom Schreibtisch aus machen.»

Dennoch sei die Technik eine gute Unterstützung des normalen
Rettungsdienstes, meint Blau. Die Verantwortlichen des
Main-Kinzig-Kreises pflichten bei: Der Telenotarzt soll vorhandene
Strukturen ergänzen, nicht ersetzen. Dabei darf der Telenotarzt
Behandlungen oder Medikamente verordnen, auch ohne physisch anwesend
sein zu müssen.

Für Patient Philipp im Rettungswagen in Gelnhausen entscheidet
Telenotarzt Bernd Rotermund: Er muss zur Beobachtung ins Krankenhaus.
Dieses Mal ist es aber nur eine Übung. Doch schon beim nächsten
Notruf behandelt er wieder einen realen Patienten - aus rund 300
Kilometern Entfernung.