Bundesgerichtshof stärkt Patientenwillen bei Sterbehilfe Von Birgit Zimmermann und Theresa Held, dpa

Darf ein Arzt seinen Patienten beim Suizid begleiten? Und wann kann
ein Mensch frei über seinen Tod entscheiden? Der Bundesgerichtshof
hat grundsätzliche Fragen geklärt.

Leipzig (dpa) - Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die bisherige
Rechtsprechung zum Umgang von Ärzten bei sterbewilligen Patienten
gelockert. Der 5. Strafsenat des BGH in Leipzig entschied am
Mittwoch, dass Ärzte nicht verpflichtet sind, Patienten nach einem
Suizidversuch gegen deren Willen das Leben zu retten. Er bestätigte
damit zwei Freisprüche der Landgerichte in Berlin und Hamburg und
stärkte das Selbstbestimmungsrecht der Patienten.

Was hat der BGH entschieden?

Ärzte sind nicht verpflichtet, bei definitiv sterbewilligen Patienten
lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen. Wenn ein Patient willentlich
eine tödliche Medikamentendosis schluckt, macht sich ein Arzt nicht
strafbar, indem er ihn nicht zurück ins Leben holt. «Der Arzt muss
dennoch bis zum letzten Moment beobachten, ob sich am Patientenwillen
etwas verändert hat», sagte Verteidiger Walter Wellinghausen nach der
Urteilsverkündung. Der BGH rückte mit der Entscheidung von der
bisherigen Rechtsprechung ab und stärkte den Patientenwillen. 1984
hatte der BGH im sogenannten Peterle-Urteil entschieden, dass Ärzte
sich unter Umständen doch strafbar machen, wenn sie bewusstlose
Patienten nicht zu retten versuchen.

Um welche Fälle ging es?

Zum einen geht es um zwei ältere Damen aus Hamburg, die sich 2012
entschlossen hatten, aus dem Leben zu scheiden. Der angeklagte Arzt
war dabei, als sie die tödlichen Medikamente einnahmen und begleitete
ihr Sterben. Zum anderen geht es um eine chronisch kranke 44-Jährige
aus Berlin, die 2013 ihr Leben ebenfalls beendete. Der angeklagte
Arzt hatte ihr ein starkes Schlafmittel verschrieben. Davon nahm sie
eine mehrfach tödliche Dosis. Dann informierte sie den Arzt, der nach
der komatösen Frau sah, aber keine Rettungsmaßnahmen ergriff.

Was haben die Vorinstanzen entschieden?

Die Landgerichte Berlin und Hamburg haben die Mediziner jeweils vom
Vorwurf eines Tötungsdeliktes freigesprochen. Beide Gerichte hatten
keine Zweifel, dass die Patienten fest entschlossen waren, ihre Leben
zu beenden. Der Patientenwille zähle, so die Gerichte. Gegen die
Freisprüche legten die Staatsanwaltschaften Revisionen ein. Es gab
eine alte Rechtsprechung des BGH, das sogenannte Peterle-Urteil von
1984, wonach Ärzte sich unter Umständen doch strafbar machen, wenn
sie bewusstlose Patienten nicht zu retten versuchen.

Was sagt die Ärzteschaft zu dem Urteil?

Rudolf Henke, Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund,
kritisierte das Urteil. Es schaffe neue Probleme, da es im
Widerspruch zu den berufsrechtlichen Pflichten von Ärzten stehe.
«Unsere ärztliche Aufgabe ist es, Leben zu erhalten und Leiden zu
lindern», teilte er nach der Urteilsverkündung mit. Er fürchte, dass

eine «schleichende Legalisierung des ärztlich begleiteten Suizids»
problematische Signale in die Gesellschaft sende. Wer alt und krank
ist, dürfe nicht Suizid begehen, mit dem Ziel, anderen nicht zur Last
zu fallen.

Wie wertet der Verein Sterbehilfe Deutschland das Urteil?

Der Verein Deutsche Sterbehilfe begrüßte die Gerichtsentscheidung und
bezeichnete sie als eine «für das Selbstbestimmungsrecht epochale
Abkehr» von dem Peterle-Urteil aus dem Jahre 1984. Für den Verein
habe das bedeutet, dass der Sterbehelfer den Sterbenden nach dem
Suizidversuch verlassen musste, bevor dieser bewusstlos wurde, weil
sich der Mediziner ansonsten strafbar gemacht hätte. «Mit dieser
unwürdigen Situation ist nun Schluss», erklärte die vom früheren
Hamburger Justizsenator Roger Kusch geleitete Vereinigung.

Welche Rolle spielte der umstrittene Paragraf 217 des
Strafgesetzbuches zum Sterbehilfe-Verbot?

Für dieses Urteil keine, denn die Fälle sind älter. Das Verbot der
«geschäftsmäßigen Förderung der Sterbehilfe» gibt es so erst se
it
2015. Paragraf 217 ist hoch umstritten. Er zielt auf die organisierte
Form der Suizidbeihilfe als eine Art Geschäftsmodell. Schwer kranke,
Menschen, Ärzte und Sterbehilfe-Vereine haben dagegen vor dem
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe geklagt. Die Entscheidung steht
noch aus.

Was ist eigentlich aus dem aufsehenerregenden Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts zur Sterbehilfe geworden?

Das Leipziger Gericht hatte 2017 geurteilt, dass der Staat unheilbar
Kranken in extremen Ausnahmesituationen den Zugang zu einem tödlichen
Medikament nicht verwehren dürfe. Seither gingen zahlreiche Anträge
beim zuständigen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
ein. Genehmigt wurde keiner - auch mit Blick auf Paragraf 217 zum
Sterbehilfe-Verbot. Das Karlsruher Urteil, das frühestens im Herbst
erwartet wird, wird daher wichtige Weichen bei dem schwierigen Thema
stellen.